Fleischgewordene Ratlosigkeit: Joachim Löw und sein Team.

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Werden es die Spanier nach ihrer klaren Pausenführung gut sein lassen, lautete die bange Frage auf der Tribüne. Die nonverbale Antwort des Kenners, vor allem des Charakters des spanischen Teamchefs, war deprimierend deutlich – die zu Boden geworfene Zigarette wurde nicht nur ausgedämpft, sondern zermalmt unter dem Schuh. Unten auf dem Rasen rang ein Spieler um Worte und fand legendäre: "Hoch werma’s nimma g’winnen."

Pfeffer und Löw

Wie Austria-Verteidiger Anton Pfeffer am 27. März 1999 in Valencia könnte sich auch der deutsche Bundestrainer Joachim Löw am 17. November 2020 nach 45 Minuten gegen eine Furia Roja gefühlt haben, die ihrem Namen alle Ehre gemacht hatte. Dass aus dem 0:3 ein 0:6 wurde und nicht wie seinerzeit ein 0:9 (nach 0:5), war nicht so sehr dem Klasseunterschied zwischen der österreichischen Auswahl von vor gut 21 Jahren und dem gegenwärtigen deutschen Team zuzuschreiben. Die aktuelle spanische Auswahl ist vielmehr noch gar nicht auf dem Höhepunkt ihrer Schaffenskraft, die jungen Wilden um Rudelführer Sergio Ramos ließen viele Chancen aus und die Deutschen daher nur mit dem drittschlimmsten Debakel ihrer Länderspielgeschichte nach einem 0:9 gegen England 1909 in Oxford und dem 0:6 gegen Österreich 1931 in Berlin davonkommen. Coach Luis Enrique hätte ein zweistelliges Ergebnis ebenso begrüßt wie José Antonio Camacho damals in Valencia. Gut Kirschen essen ist mit beiden nicht.

Ob die Pleite auch Joachim Löw den Job kosten wird, ist offen. Freiwillig wie Herbert Prohaska im Frühjahr 1999, das deutete der 60-jährige Schwabe an, dürfte er nicht gehen. Oliver Bierhoff stellte sich fast schon verdächtig deutlich hinter ihn. "Das Vertrauen ist vollkommen da, absolut", sagte der ebenfalls schockierte Direktor des deutschen Fußballbundes (DFB) nach dem Totalschaden im fast leeren Estadio de La Cartuja. Für Erholung und Reparatur bleibt je nach Blickwinkel zu viel oder zu wenig Zeit.

Nur noch drei Spiele

Gutmachung kann der Bundestrainer erst wieder im März leisten. Andererseits stehen dann nur noch drei Spiele zur Verfügung, um eines Kaders sicher zu sein, der bei der EM wie allseits gefordert um den Titel mitmischen kann.

In Sevilla wirkte Löw während und auch nach der schrecklichen Partie zum Jahresabschluss ratlos. Die für ihn nervige Dauerdiskussion über eine mögliche Rückkehr der aussortierten Weltmeister Thomas Müller, Mats Hummels und Jerome Boateng ist nur einer von zahlreichen Bränden, die Löw auf dem Weg zur EM aushalten muss.

"Es hat überhaupt nichts funktioniert. Deswegen sind wir riesig enttäuscht und sauer", sagte der Coach. Die Schwächen waren flott benannt: "Keine Organisation, keine Kommunikation, keine Zweikampfhärte, kein Zweikampfverhalten. Das war tödlich."

Nun gelte es, das Spiel in den nächsten Tagen im Trainerstab aufarbeiten. "Wir müssen die richtigen Schlüsse ziehen", sagte Löw. Ein schon gezogener: "Wir dachten, dass wir schon weiter sind."

Nicht völlig erschüttert

Natürlich gibt es viele, die genau wissen, wie es geht. Angefangen beim ARD-Experten Bastian Schweinsteiger. "Spieler wie Jerome Boateng und Thomas Müller haben das Triple gewonnen, mit der besten Mannschaft in Europa. Die spielen da in der ersten Elf und haben Qualität. Warum nicht für die Nationalmannschaft?", fragte der Ex-Kapitän. Rekordnationalspieler Lothar Matthäus fragt nicht, er konstatiert: "Man braucht diese Führungsspieler nach so einer Niederlage."

Löw will davon nichts wissen. Für eine Rückholaktion gebe es aktuell "keinen Grund". Das Vertrauen in seine Spieler sei "jetzt nicht völlig erschüttert". Man müsse die Situation um Hummels, Müller und Boateng "zum richtigen Zeitpunkt bewerten". Bewertungshilfen lieferte der Kapitän, Manuel Neuer, schon vor der Partie in Sevilla, die dann so gar nicht seinen Torhüterrekord von 96 Einsätzen für Deutschland adelte. Die aussortierten Spieler "könnten uns grundsätzlich helfen, das haben sie ja oft genug bewiesen", sagte der 34-Jährige. (Sigi Lützow, 18.11.2020)