Die Polizei hat eine eigene Ermittlungsgruppe "2. November" gegründet.

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Mehr als zwei Wochen sind seit dem tödlichen Anschlag in Wien vergangen. Die Staatsanwaltschaft Wien hat über zwanzig Verdächtige ins Visier genommen, die "Gruppe 2. November" ermittelt mit Hochdruck mit Experten aus unterschiedlichen Polizeibehörden. Ihre eigene Untersuchung hat bereits eine von Innen- und Justizministerium eingesetzte Kommission gestartet. Sie soll Behördenversagen aufklären.

Der Anschlag

Knapp vor 20 Uhr hallen am 2. November die ersten Schüsse durch die Wiener Innenstadt: Der Attentäter K. F. eröffnet das Feuer auf eine fünfköpfige Gruppe, trifft eine Person tödlich. Neun Minuten lang bewegt er sich rund um den jüdischen Stadttempel und das Bermudadreieck. Um 20.09 Uhr ist der Täter tot. In den zehn Minuten hat er vier Personen ermordet und über zwanzig Menschen teils schwer verletzt. Dafür nutzte er einen serbischen Kalaschnikow-Nachbau, eine Tokarew-Pistole und ein Macheten-ähnliches Messer; außerdem trug er eine Sprengstoffgürtelattrappe.

Nach wie vor ist unklar, wie K. F. zum Tatort gelangt ist, auf Überwachungsvideos der Wiener Linien ist er nicht zu sehen. Ein Uber-Fahrer will ihn chauffiert haben, die Polizei hält von dieser Spur allerdings nicht viel. Ein Beitragstäter, der ihn hingefahren hat, wird nach wie vor nicht ausgeschlossen. Warum der Täter genau am 2. November zugeschlagen hat, ist unklar. Womöglich alarmierte ihn eine SMS, in der seine Meldung eines Einbruchs an die Polizei bestätigt wurde. Vielleicht wollte er aber den letzten Abend vor dem Lockdown nutzen.

Das Jihadistentreffen

Am 16. Juli 2020 fährt der spätere Attentäter K. F. gemeinsam mit Argjend G. und einem weiteren, noch unbekannten Mann zum Flughafen Wien-Schwechat. Die drei holen Besuch aus Deutschland ab: Zwei amtsbekannte Jihadisten haben sich auf den Weg nach Wien gemacht – und der Verfassungsschutz beobachtet sie auf Schritt und Tritt. In den nächsten vier Tagen gibt es Treffen in Parks und in Moscheen, K. F. beherbergt mindestens einen der Deutschen. Auch aus der Schweiz reisen zwei Islamisten an.

Eine zentrale Rolle dürfte Anzor W. spielen, der zu diesem Zeitpunkt noch in Wien wohnt. Er war bereits 2017 wegen der versuchten Ausreise nach Deutschland verurteilt worden; zwischen Jänner und Oktober 2020 wohnte er mit seiner Familie in Wien. Der im Umfeld des berüchtigten Predigers Abu Walaa radikalisierte Islamist ist durchgehend im Visier der Ermittler, die etwa über eine von ihm erstellte Whatsapp-Gruppe Bescheid wissen. Darin wird IS-Propaganda geteilt, mehrere aktuell Verdächtige waren Mitglied. Das Jihadistentreffen könnte der Anschlagsplanung gedient haben, denken Ermittler. In einer Haftanordnung heißt es, dass die Beschuldigten anlässlich der Treffen "die Tatausführung besprachen sowie Pläne zur Anschaffung der Tatmittel schmiedeten". Das wird von den Anwälten der Verurteilten klar dementiert.

Im August reisten dann drei Verdächtige ins deutsche Hanau – angeblich, um eine Freundin zu besuchen. Diese drei Personen sollen davor und danach in engem Kontakt mit K. F. gestanden sein. Der spätere Attentäter nahm von zwei der Verdächtigen, die nach Deutschland reisten, ein Foto mit erhobenem Zeigefinger auf – der Geste des IS. Diente die Reise auch der Tatvorbereitung? Die Verdächtigen halten dem entgegen, dass das Treffen mit einer Bekannten in Hanau gut dokumentiert ist. Darüber – und über das Aussehen der Frau – hätte einer der Verdächtigen mit seiner Mutter gechattet.

Das Netzwerk in Österreich

Schon in der Nacht nach dem Anschlag werden zwölf Personen verhaftet: Um 3.46 Uhr ordnet der Journaldienst der Staatsanwaltschaft die Maßnahmen an. Um 7.14 Uhr folgen drei weitere Verdächtige. Die Liste der Verdächtigen wächst beinahe jeden Tag. Zehn Personen befinden sich laut Auskunft des Landesgerichtes für Strafsachen derzeit in Haft. Am Montag fanden bei fünf Beschuldigten erste Haftprüfungen statt, die U-Haft wurde verlängert. Am Donnerstag finden fünf weitere Haftprüfungsverhandlungen statt.

Fast alle sind amtsbekannt, manche waren bereits angeklagt, andere bereits verurteilt: Einer wollte mit dem späteren Attentäter einst nach Syrien ausreisen; ein anderer war in den geplanten Überfall eines Waffengeschäfts involviert; ein Dritter soll IS-Propaganda verbreitet haben. Rasch stellen Ermittler fest, dass es Bezüge zu einem weiteren Verfahren gibt: Der Islamist Serfiraz K. soll im Sommer 2017 ein junges Mädchen nach Syrien gebracht und dem IS "zugeführt haben", wie es in den Akten heißt – für alle Genannten gilt die Unschuldsvermutung. Unklar ist, wie eng die Verdächtigen mit "früheren Generationen" von Predigern und Islamisten zu tun hatten, beispielsweise mit dem verurteilten Ebu Tejma. K. F. besuchte jedenfalls dieselbe Moschee wie Lorenz K., der verurteilte Bombenbastler.

Zwei Verdächtige sollen noch wenige Stunden vor dem Attentat Kontakt mit K. F. gehabt haben – sie brachten ihm ein geliehenes "islamisches Buch" zurück. Für die Staatsanwaltschaft ist es eine "lebensnahe Annahme", dass das Treffen in Verbindung mit dem Attentat stünde. Der Anwalt der Betroffenen hält dem entgegen, dass "keinerlei Ermittlungsergebnisse" diese These unterstützen.

Ermittlungspannen

Nach fast jedem Terroranschlag ist rasch klar: Die Behörden haben den Täter gekannt und wichtige Warnsignale übersehen. Das war bei K. F. nicht anders: Nach dem Jihadistentreffen im Juli 2020 fuhr er in die Slowakei, um Munition zu kaufen – was für den Besitz einer Waffe spricht. Der Verfassungsschutz wurde durch sein slowakisches Pendant informiert; ein Beamter schlug eine Erhöhung der Gefährdungseinschätzung vor – ohne Folgen. Laut Akten wurden Maßnahmen gegen K. F. geplant, eine andere, von dem Thema unabhängige Aktion hatte jedoch Vorrang.

Nur wenige Tage nach dem Terroranschlag in Wien folgte die großangelegte Razzia "Luxor" gegen 70 Beschuldigte eines angeblichen Netzwerks von Muslimbrüdern. Dabei wurde laut Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) ein Vermögen von mehr als 20 Millionen Euro sichergestellt. Der höchste Bargeldfund: 100.000 Euro. Festgenommen wurde niemand. Mehr ist nicht bekannt. Ob die Priorisierung dieser Ermittlungen ein tödlicher Fehler war, soll nun eine Untersuchungskommission klären. Sie legt im Dezember ihren ersten Bericht vor. (Fabian Schmid, Jan Michael Marchart, 19.11.2020)