Adams Geschichte ist fast zu schön, um wahr zu sein: ein aufgeweckter Elfjähriger, dessen zweites Wohnzimmer die nahegelegene Filiale der städtischen Bücherei ist; ein Wiener Bub mit Migrationshintergrund, der ein derart gewähltes Deutsch spricht, als wäre er mindestens 16; einer, der das Lesen so sehr liebt wie andere Gleichaltrige ihr Handy; und der auch noch regelmäßig witzige Lesetipp-Videos auf Youtube hochlädt. Zum Beispiel das: "Warrior Cats, Special Adventure: Brombeersterns Aufstieg".

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Adam erzählt die Handlung des Buches so lebendig und eindringlich, dass man ihm unbesehen glaubt, wenn er sagt: "Leute, ihr müsst das lesen!" (Youtube-Kanal: "Infos teilen mit Adam") Klar, dass Adam ein Elterndarling ist. Vor allem Eltern, die Geschichten in Zeitungen schreiben dürfen, reißen sich um Adam, seit er die Kinderbücher in den Büchereien der Stadt Wien vorstellt und seine Lieblingsbücher bewirbt.

Cool genug?

Aber ist Adam auch cool genug für Elfjährige? Das können natürlich nur die Elfjährigen selbst beurteilen. Der STANDARD-Lackmustest für Adam heißt Florian. Er ist ebenfalls Wiener, wohnt nur wenige Straßen von Adam entfernt, ist gleich alt wie er. Florian kennt sich auf Youtube aus – soweit das seine Eltern erlauben; er liest recht gerne und ist grundsätzlich kritisch. Vor allem dann, wenn Erwachsene etwas toll finden, speziell die eigene Mutter. Als ich ihm also Adams Youtube-Link zeige, ist er zunächst durchaus skeptisch. Florian verkrümelt sich mit dem iPad in sein Zimmer, doch nach kurzer Zeit ist er wieder da: "Der Adam macht coole Sachen", sagt er, "den mag ich gern treffen".

Adam ist elf, liebt das Lesen und hat einen eigenen Youtube-Kanal, auf dem er Kinderbücher vorstellt, die er gerade gelesen hat und empfehlen kann. Das gefällt nicht nur Erwachsenen.
Foto: Christian Fischer

Wir treffen also Adam, knapp vor dem neuerlichen Schul-Lockdown, in der städtischen Bücherei in der Engerthstraße im zweiten Bezirk. Dort kennen sie Adam gut, seit Kindergartentagen. Adam kommt mit seinen Eltern, er ist sehr höflich, freundlich und zurückhaltend. Er weiß, hier soll ein Artikel für die Zeitung entstehen, und er will es richtig machen. Richtig erzählen, was Bücher für ihn bedeuten – sodass es neugierige Erwachsene, aber auch Elfjährige verstehen. Also sagt Adam gleich zu Beginn: "Lesen ist mein Leben."

Florian will auch alles richtig machen. Sein erster Satz an Adam lautet: "Deine Videos sind cool." Adam freut sich sichtbar, das Experteninterview kann beginnen.

Fachgespräch unter Elfjährigen

Adam erzählt, dass ihn Jeannette und Stephanie zum Lesen gebracht hätten – das waren seine Klassenlehrerinnen in der Volksschule Vorgartenstraße. Er weiß noch genau, welches Buch ihn damals total gefesselt hat: Warrior Cats – Die Mission des Schülers von Erin Hunter. Adam: "Das habe ich in wenigen Tagen gelesen." Er weiß auch, dass hinter "Erin Hunter" mehrere Autorinnen und Autoren stecken – und er kann es Florian sehr empfehlen. Der revanchiert sich mit Woodwalkers von Katja Brandis, die Adam noch nicht gekannt hat. Schon sind die beiden in ein Fachgespräch über Gestaltwandler, coole Schulen und Freundschaften verwickelt und vergessen erwachsenenkompatible Höflichkeiten.

Fachgespräche unter Elfjährigen: Warrior Cats oder Woodwalkers? Lesen oder Musiktracks? Hauptsache, cool auf Youtube sein.
Foto: Christian Fischer

Tatsächlich haben Adams Eltern einen wesentlichen Anteil daran, dass ihr Sohn Bücher über alles liebt. Seine Mutter hat den kleinen Adam schon als Kindergartenkind fast jeden Nachmittag in die Bücherei mitgenommen. Dort las sie ihm vor, ließ ihn in Bilderbüchern blättern und die gemütlich-langsame Atmosphäre einer Bibliothek schnuppern. "Er hat das immer geliebt", lächelt Adams Mutter. Sie und ihr Mann sind sichtbar stolz auf ihren begabten Sohn, der auch im Sigmund-Freud-Gymnasium gute Noten schreibt. Allein dass er so viel und so schnell liest, bereitet ihr manchmal Sorgen: "In drei Stunden 100 Seiten – das finde ich fast zu viel", sagt sie.

Leicht hat es Adams Familie mit ihrem ägyptischen Migrationshintergrund nicht immer gehabt in Wien. Die Stadt und ihre Bewohner kamen den Eltern anfangs fremd vor. Das ist lange her, und ihr Zuhause ist der zweite Bezirk. "Ich bin der Erste meiner Familie, der in Wien geboren wurde", erklärt Adam.

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Florian interessiert an seinem neuen Freund vor allem die Tatsache, dass Adam bereits 41 Büchervideos gedreht und immerhin schon 77 Follower hat, Tendenz steigend. Okay, da ist noch Luft nach oben, das sieht auch Florian so. Aber Adam ist ja auch erst seit dem ersten Lockdown im Frühjahr dieses Jahres aktiv. "Ich glaube, damals war ihm ein bisschen langweilig", sagt Adams Mutter. Deshalb probierte er auf Mamas Handy, das erste Büchertipp-Video zu drehen. Und weil ihm das gefiel und obendrein ganz gut gelang, machte er beim nächsten Buch, das er gelesen hatte, gleich noch ein Video. Und so weiter. Als die Corona-Maßnahmen gelockert wurden, hatte Adam schon fast eine Videoroutine entwickelt: "Alle drei Wochen dreh ich eins", sagt er.

Adam kennt sich in seiner Bücherei aus.
Foto: Christian Fischer

Die Wiener Büchereien stießen zufällig auf Adams besonderes Talent. Im Zuge des Sommerleseclubs, bei dem Kinder von sechs bis 14 Jahren Ferienlektüre ausleihen und an einem Gewinnspiel teilnehmen können, schrieb Adam auf dem Teilnahmezettel über seine Videos. Bei den Büchereien war man hellauf begeistert. "Adam ist der perfekte Bücher-Youtuber", sagt Büchereien-Sprecher Patrik Volf, "er hat eine hohe Glaubwürdigkeit bei Kindern seines Alters und ist superauthentisch."

Adam entspricht auch dem (nicht zuletzt der Corona-Pandemie geschuldeten) Trend der Wiener Büchereien: Man wird immer digitaler. Etwa beim momentan laufenden herbstlichen Lesofanten-Festival, das heuer zum 35. Mal über die Bühne geht – diesmal unter dem Motto: "Ihr könnt nicht zu uns. Wir kommen zu euch. Wir gehen online."

"Die finden das super"

In der analogen Bücherei in der Engerthstraße ist man mittlerweile nicht mehr beim Lesen. Florian verrät Adam, dass er begonnen hat, Musiktracks zu produzieren. Und Adam erzählt Florian, welche Apps er entdeckt hat, mit denen er seine Videos spannender machen kann. Am Ende tauschen die beiden Handynummern aus und versprechen einander, bald zu whatsappen. Florian will mit Adam noch ein paar Geschichten aus Gregs Tagebuch vertiefen. Adam wird zum Abschied wieder höflich: "Es ist sehr schön, dass ich Ihren Sohn kennenlernen durfte", sagt er zu mir.

Adam empfiehlt auf seinem Youtube-Kanal anderen Kindern Bücher.
Foto: Christian Fischer

Auf dem Nachhauseweg ist Florian recht schweigsam. Dann sagt er: "Am tollsten finde ich, wie Adams Eltern ihn unterstützen. Die finden das super, dass er auf Youtube ist!" Vorwurfsvoller Nachsatz: "Du willst nicht einmal, dass man von mir eine Zehe auf Youtube sieht." Genauso ist es, sage ich bestimmt. Zumindest, solange er keine seriöse Idee habe, wovon seine Videos handeln könnten. "Ich will halt nicht, dass du mit 30 bereust, was du mit elf auf Youtube gemacht hast", sage ich. Darüber müssen wir jedenfalls noch reden.

Florian muss das gleich Adam whatsappen – aber vorher wird er noch ein paar Seiten lesen. (Petra Stuiber, 19.11.2020)