Foto: Memoranda

Unter mir erstreckte sich eine Ebene aus gepfählten Knochen; Millionen und Abermillionen von menschlichen Brustkörben und Schädeln, die sich im Sturm bewegten und unaufhörlich aneinanderschlugen. Es mag paradox wirken, dass mich ausgerechnet ein Buch, in dem sich eine Szene wie diese entfaltet, aus einem zwischenzeitlichen Stimmungstief geholt hat; ein Buch, in dem mal albtraumhafte Kreaturen aus dem Schlamm gekrochen kommen, mal mutierte Vögel einen ganzen Landstrich entvölkern und ein andermal eine Ladung Augäpfel aus der Pathologie entführt wird.

Aber so, wie mich ein trauriger Song letztlich froh macht, einfach nur weil er schön ist, so ist auch die erzählerische Gabe eines Autors wie Michael Marrak geradezu dazu verdammt, eine Kraft des Positiven zu bleiben. Und keine Angst, es ist ohnehin nicht alles hier in Düsternis getaucht. In den acht Erzählungen, die für "Das Haus Lazarus" versammelt wurden und zwischen Horror, SF und Surrealismus pendeln, gibt es auch immer wieder Gelegenheiten zum Lachen. Und dann stürzt sich Marrak mit derselben Konsequenz in den Klamauk, mit der er apokalyptische Visionen heraufbeschwört oder Worldbuilding zum Spektakel macht.

Bildstarke Science Fiction

Worldbuilding ist ein wichtiges Stichwort, denn Marraks Welten sind so durchdesignt, wie man es nur selten zu lesen bekommt. Siehe etwa die Geschichte "Relicon", deren Erzähler einen alten Bekannten besucht, der virtuelle Räume gestaltet und aktuell mit einem christlichen Themenpark beschäftigt ist: Die Landschaft selbst wirkte wie ein Opiumtraum Innozenz des VIII.: Berge, die aussahen wie Mitren, Seen wie Taufbecken und am Horizont ein Gebirge in Katholisch Violett. Die Bäume dufteten nach Myrrhe, das Gras in der Ferne glänzte wie der Samt schwerer Talare und am Horizont leuchtete keine Sonne, sondern ein Kruzifix, das aus den Weihrauchwolken einen kardinalroten Sonnenuntergang zauberte. – Halbe Sachen machen ist eindeutig nicht Marraks Ding.

Ebenfalls zur SF ist der – leider nicht abgeschlossene – Kurzroman "Insomnia" zu zählen. Darin geht der Ermittler Melchior Farell dem eingangs erwähnten Augapfel-Diebstahl nach und bekommt es unter anderem mit dekadenten Adeligen, aufdringlicher Erotik-Werbung und Akteuren mit beunruhigend nichtmenschlichen Fähigkeiten zu tun. Die Handlung ist relativ konventionell, der Schauplatz aber wieder einmal zum Darin-Verlieren. Insomnia City ist der Spitzname Sydneys, das nach globalen Ressourcenkriegen eines der letzten Refugien der Menschheit bildet und unter seinem Strahlungsschirm zum wimmelnden Moloch geworden ist. Im Nachwort erklärt Marrak, dass die Geschichte von "Blade Runner" inspiriert wurde, was gegen Ende hin auch tatsächlich offensichtlich wird. Ebenso gut könnten wir uns hier aber auch durch eine der urbanen Visionen von Moebius oder Enki Bilal bewegen. Dass "Insomnia" keine Graphic Novel ist, macht Marrak mit einer verbalen Ausstattungsschlacht locker wett.

Die düsteren Drei

Dass sich Marrak mit seinem Hang zur Bildhaftigkeit irgendwann auch einmal mit Hieronymus Bosch beschäftigen würde, erscheint fast zwangsläufig. In "Die Parabel vom Zwielicht" stößt der Erzähler auf eine Briefsammlung von Boschs Ehefrau und findet so Eintritt in eine geheime Welt, in der die albtraumhafte Schönheit von Boschs Bildern sehr reale Gestalt annimmt.

Sogar noch dichter gepackt ist "Eine Moritat aus Wolken und Dunkelheit", die Fortsetzung des "Schattenmärchens" aus dem Erzählband "Quo vadis, Armageddon?". Einmal mehr zieht darin ein mysteriöser Geschichtenerzähler sein verängstigtes Publikum in den Bann, und einmal mehr fragen wir uns, was hier eigentlich geschehen ist: Gab es eine Alien-Invasion? Hat sich Cthulhu mit seinem Hofstaat manifestiert? Die Geschichte verweigert sich jeder Antwort und gefällt sich (für meinen Geschmack ein bisschen zu sehr) in ihrer Rätselhaftigkeit.

Auffällig an dieser Storysammlung ist übrigens, dass fast immer in erster Person erzählt wird. So auch in der Titelgeschichte "Das Haus Lazarus": Deren Ich-Erzähler erwacht im Zerrbild eines Krankenhauses ("Bezeichnen Sie es als virtuelle Metapher"), und recht früh erraten wir, dass er in einem Zustand zwischen Leben und Tod schweben muss. Dieses Ringen wächst sich dann zu einem Trip durch eine phantasmagorische Landschaft aus, in der Elemente der biblischen und ägyptischen Mythologie mit Maschinen-Visionen à la Frank Hebben zu einem apokalyptischen Ganzen verschmelzen. Wie so oft bei Marrak ist hier der Weg das Ziel – denn der Plot selbst lässt ja genau genommen nur zwei Möglichkeiten für das Ende zu.

And now for something completely different

Wer sich nach all der dräuenden Düsternis nach etwas Auflockerung sehnt, bekommt sie im "Tagebuch eines Frontalzusammenstoßes". Die Realitätswahrnehmung von dessen Verfasser – dem geistig spektakulär verwirrten Insassen einer Anstalt – lässt sich hier kaum wiedergeben. Marrak muss beim Schreiben eine Menge Spaß gehabt haben, denn das "Tagebuch" folgt konsequent der Struktur eines Antiwitzes (also "Zwei Hochhäuser sitzen im Keller und stricken Pommes frites" und dergleichen; hier z.B.: Muss noch bei Patient 28 vorbeischauen, um ionisierten Gallensaft für den Antrieb zu besorgen. Vielleicht sollte ich ihm endlich sagen, dass meine Schuhe seine Niere gefressen haben. Er wird's verstehen. Ist ein netter Kerl, wenn er nicht gerade am Kreuz hängt.). Pures Dada über 20 Seiten hinweg durchzuhalten ist gleichermaßen beeindruckend und vergnüglich zu lesen – selbst wenn zwischendurch mal ein Blick auf die weniger lustige Anstaltsrealität durchschimmert.

In krassem Gegensatz dazu ist "Endemion" ganz der Wiedergabe einer objektiven Realität verhaftet. Mit all ihren geografischen, botanischen und kolonialgeschichtlichen Details liest sich die Novelle wie ein mit minutiöser Sorgfalt erstellter Forschungsbericht aus dem 19. Jahrhundert. Dass sie mit der Schilderung einer albtraumhaften Prozession beginnt, in der Menschen gekreuzigte Vögel in den Wald tragen, lässt allerdings keinen Zweifel daran, dass die hier geschilderte Expedition auf etwas Schreckliches stoßen wird. Als Horror mit naturwissenschaftlicher Zugangsweise erinnert "Endemion" an die Werke Laird Barrons. Und natürlich ist auch eine gewisse Reststrahlung von H. P. Lovecraft noch erkennbar, selbst wenn alle expliziten Verweise aus dieser Version der Geschichte herausgestrichen wurden.

Die Keimzelle des Kanons

Im Nachwort gibt der Band einige interessante Einblicke in die Arbeitsweise Marraks. Offenbar haben wir es hier mit einem Autor zu tun, der in tolkienscher Manier Erzählungen immer wieder überarbeitet oder als Fragmente in andere Werke einfließen lässt – bis es zu jeder Geschichte eine Reihe verschiedener Versionen gibt. Ein besonderer Fall dieses ständigen Evolutionsprozesses ist die Vignette "Halbes Männlein und Tod", die den Band eröffnet. Die bleibt für sich allein genommen zwar nicht minder rätselhaft als die "Moritat aus Wolken und Dunkelheit". Anders als diese verströmt sie aber auf nur zwei Seiten so viel Munterkeit, dass ich mir wohl schon damals, als sie 1993 zum ersten Mal erschien, unbedingt mehr davon gewünscht hätte (so ich sie denn gekannt hätte).

Ein Vierteljahrhundert später ist dann auch tatsächlich mehr daraus geworden, sehr viel mehr sogar. "Halbes Männlein und Tod" war nämlich die Keimzelle des preisgekrönten Romans "Der Kanon mechanischer Seelen", der 2017 für Furore sorgte. Und da darf ich zum Schluss noch eine gute Nachricht verkünden: Vor kurzem hat Marrak mit "Anima ex Machina" einen weiteren "Kanon"-Roman veröffentlicht. Rezension folgt in der nächsten Rundschau.