Foto: Heyne

Ich habe es schon öfter gesagt, und ich sage es wieder: Der Hype um chinesische Science Fiction scheint mir eher forciert, als dass er sich aus den vorgelegten Werken von selbst ergeben würde. Meine bisherige Lektüre-Bilanz war durchwachsen, und das setzt sich mit dieser Anthologie nahtlos fort. Im Original zusammengestellt von der Literaturzeitschrift "Renmin wenxue", enthält sie 15 Erzählungen von ebenso vielen Autoren aus den Jahren 2000 bis 2020. Einige davon sind exzellent, andere wirken, als hätte man sie in einer Kiste aus den 1950er Jahren gefunden, und bei manchen fragt man sich ehrlich, für welche Altersgruppe sie geschrieben wurden. Aber da von Anthologien ohnehin nur die Highlights in Erinnerung bleiben, kann man sich die "Quantenträume" durchaus gönnen.

Bekannte Größen

Nicht zuletzt sind es deutschsprachigen Lesern bereits bekannte Autoren, die für solche Höhepunkte sorgen. Etwa Qiufan Chen, dessen exzellenter Technoschrott-Thriller "Die Siliziuminsel" vor einem Jahr ebenfalls bei Heyne erschienen ist. Die Protagonistin seiner Erzählung "Cloud-Liebe" hat im realen Leben wenig Glück in der Liebe und verliert sich stattdessen in einem Online-Game, das wie eine seltsame Variante des Turing-Tests wirkt. Die Spieler müssen nämlich versuchen, ihr Gegenüber dazu zu bringen, sich in sie zu verlieben – doch mischen sich darunter auch Künstliche Intelligenzen, die es zu enttarnen gilt. Es ist eine Betrachtung zum Wesen der Liebe in Zeiten neuer technologischer Möglichkeiten, die auch gut in Alexander Weinsteins famosen Storyband "Universal Love" passen würde.

Bei Hao Jingfang war ich zunächst etwas skeptischer, von ihr hatte ich zuvor mit "Peking falten" eine absolut fantastische Novelle und mit "Wandernde Himmel" einen Roman so zäh wie Melasse gelesen. Aber es kommt ihr offenbar entgegen, wenn sie sich kürzer fassen muss. Ren, der Protagonist ihrer Erzählung "Wo bist du?", versucht Sponsoren für die von ihm entwickelten "digitalen Doppelgänger" zu keilen (ein Konzept, das sich weitgehend mit dem der Proxys aus den Romanen David Maruseks deckt). Doch für die ungeteilte Aufmerksamkeit des Originals sind die nur ein unzulänglicher Ersatz, wie Ren am eigenen Leib erfahren muss. Oder besser gesagt am Leib seiner Partnerin. Kein Wunder, dass die nur mäßig davon angetan ist, dass ihr Smart-Textil ihr Rens Gesicht in den Schoß projiziert (iiiih!) oder durch gezielt ausgeübten Druck eine "tröstende" Umarmung simuliert (creepy!!).

Ein Gedanke macht noch keine Geschichte

Auch in Wang Jinkangs "Bekenntnis" geht es um duplizierte Personen, aber auf wesentlich einfacherem Niveau. Nachdem ein frischvermähltes Ehepaar einen Unfall erlitten hat, willigt der Erzähler ein, dass seine Braut repliziert wird. Nicht geklont, wie lobenswerterweise ausdrücklich gesagt wird, da ein Klon ja nur identische DNA, aber eine völlig eigenständige Persönlichkeit hätte. Stattdessen kommt die junge Frau aus einer Art avanciertem 3D-Drucker, der sie Molekül für Molekül rekonstruiert – inklusive der Konfiguration ihres Gehirns und damit ihrer Persönlichkeit. Das ist so weit konsequent gedacht – aber leider nicht darüber hinaus weitergedacht. Aus dieser fantastischen Technologie müssten nämlich so viele andere Anwendungen entspringen, dass die Welt sicher längst nicht mehr so aussähe wie die hier beschriebene, eine typische "Gegenwart plus ein Gimmick"-Zukunft wie in Science Fiction aus den 50er Jahren.

Das kann man jetzt kleinlich finden, schließlich geht es in der Geschichte doch eigentlich um das alte SF-Gedankenspiel "Ist eine perfekte Kopie noch vom Original zu unterscheiden?". Ja, aber ich ziehe Gedankenspiele vor, die das, was sie angefangen haben, auch in aller Konsequenz zu Ende denken, wie es die Ted Chiangs und Alexander Weinsteins dieser Welt tun. Ansonsten bleibt das Ganze letztlich unglaubwürdig. Wang Jinkang zu Ehren muss man allerdings sagen, dass andere Autoren in dieser Sammlung noch nicht einmal so weit kommen. Die vergessen über dem "Was" komplett auf das "Wie" und packen ihre jeweilige Idee in eine derart ungelenke Erzählung, dass zumindest hier jede Kopie in Form einer Inhaltsangabe dem Original gleichwertig wäre.

Unglaubwürdige Roboter und eine glaubwürdige Fußbadewanne

Erlebnisse der schlichten Art sind unter anderem die Erzählungen "Mordfall LW31" von A Que (wieder mal ein Roboter unter Mordverdacht), "Das Hausmädchen" von Liu Yang (ein scheinbarer Slasher-Thriller mit bemerkenswert kunstlos ausformulierter Pointe) oder "Mission: Rettung der Menschheit" von Liu Weiji, das die Geschichte eines glücklosen Roboters in märchenhaft simplifizierendem Ton erzählt. Keine von ihnen liefert eine auch nur annähernd überzeugende Darstellung von Künstlicher Intelligenz – was eigentlich ja das Motto dieser Anthologie ist.

Und das gilt auch für das vierte Robotermärchen im Bunde, ein Stück Pulp-SF namens "Hotel Titania" von Luo Longxiang. Der Inhalt: Als ein Raumfahrer-Hotel auf dem Uranusmond Titania für einige Jahre eingemottet wird, entwickeln die dort verbleibenden Roboter den Ehrgeiz, die Anlage mit neuen Attraktionen zu versehen. Die Resultate sind haarsträubend und, ja, auch lustig. Aber wie die Roboter handeln und sprechen ("Igitt, wie hässlich!" entfuhr es Fo67), ist nicht KI- sondern allenfalls kindgerecht.

Als positives Gegenbeispiel sei "Der Wannengeist" genannt, für das Autorin Shuang Chimou eine Erzählung aus dem Mittelalter kreativ neuadaptiert hat. Darin bestellt ein empörter Kunde mitten in der U-Bahn einen virtuellen Gerichtshof ein, weil er davon überzeugt ist, dass seine neue Fußbadewanne(!) von einer fehlerhaften KI besessen sei. Trotz der grotesk anmutenden Umstände wird uns hier nach und nach eine tatsächlich andere Form von Intelligenz bzw. Persönlichkeit vorgestellt. Was die menschelnden Roboter der zuvor genannten Geschichten nur noch unglaubwürdiger erscheinen lässt. Und angesichts des KI-Mottos noch lächerlicher. Sorry, liebe Macher von "Renmin wenxue", ich habe dieses Motto nicht vorgegeben. Das wart ihr schon selbst – ich messe nur die einzelnen Geschichten daran. Und ein paar Beiträgen in dieser Anthologie tut die unmittelbare Nähe zu weit überlegenen Geschichten wirklich nicht gut.

Noch ein paar Goodies

Ein paar gleichnishafte Erzählungen überspringe ich hier und komme gleich zu einem weiteren Highlight. "Tochter des Meeres" sticht alleine schon deshalb hervor, weil sich Autor Baoshu als einziger in dieser Anthologie aus der Nahzukunft in ein etwas exotischeres Ambiente vorwagt. Titelfigur ist ein posthumanes Wesen, das mit seinem formveränderlichen Körper auf zwei Zeitebenen und in zwei konträren Umgebungen agiert. In der Vergangenheit war es die Tiefsee, die "Meerestochter" Fatima erforschen half. Doch seitdem hat eine gewaltige Sonneneruption die Erde in eine zweite Venus verwandelt, und so zieht Fatima in der Gegenwart allein über eine tote Welt.

Spannend liest sich die elektronische Schlacht zwischen Cyberpolizisten und einer mutmaßlichen KI in Sun Wanglus "Der umgekehrte Turing-Test", und außer Wertung führe ich Gu Shis "Die Möbius-Raumzeit". Wieder einmal ist es ein Gedankenspiel, ausgehend diesmal von der Prämisse, dass ein nach einem Unfall querschnittgelähmter Mann einen Ersatzkörper erhält. Dass er diesen extern steuern kann, führt sukzessive zu einer Transformierung seines Ichs, für das sich – siehe Titel – Innen und Außen nicht mehr voneinander unterscheiden lassen. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob hier tatsächlich jeder Gedanke folgerichtig aus dem vorangegangenen entspringt, aber faszinierend ist es allemal.

Vorerst noch ein Geheimtipp

Zu guter Letzt sei noch jene Geschichte gewürdigt, die den Band verheißungsvoll eröffnet (ehe er mit der nächsten gleich wieder ruckartig absacken wird ...). Xia Jias "Lass uns reden" beginnt mit den Worten: Nur wenige Umstände erfordern es, eine Linguistin mitten in der Nacht aus dem Bett zu holen. [...] Mein erster Gedanke war: Oje, jetzt sind die Aliens wirklich da. Unwillkürlich denken wir an Filme wie "Arrival" oder "Der Tag, an dem die Erde stillstand", doch tatsächlich wird die Erzählerin mit einem viel skurrileren Fall betraut werden. Und noch tatsächlicher geht es im weiteren Verlauf gar nicht mehr um diesen Fall, sondern um die Schwester der Erzählerin. Die hat sich mit einem Virus infiziert, das ihre Sprachverarbeitung stört, wodurch sie eine für niemanden sonst verständliche "Privatsprache" entwickelt hat. Und dennoch gelingt es den beiden Schwestern, miteinander zu kommunizieren.

Im Anhang wird angemerkt, dass "Lass uns reden" Teil eines größeren Erzählzyklus sei – da werde ich gerne meine Augen nach weiteren Übersetzungen offenhalten. Denn als Meditation zum Thema Sprache verkörpert es in Sachen Science Fiction jenen state of the art, den in diesem Band vielleicht noch drei, vier andere Erzählungen erreichen, während die meisten weit von ihm entfernt sind. Aber wie gesagt, man erinnert sich bei Anthologien ohnehin immer nur an das Gute.