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Foto: REUTERS/Marcelo Del Pozo

Köln – Der deutsche Nationaltrainer Joachim Löw arbeitet in aller Ruhe das höchte Debakel seiner Amtszeit auf. Die Politik hat ihn dabei bisher nicht gestört – anders als bei seinem Vorgänger Jürgen Klinsmann. Nach einem 1:4 in Italien kurz vor der Heim-WM 2006 wollten Abgeordnete den damaligen Bundestrainer vor den Sportausschuss des Bundestages zitieren. Dazu kam es nicht, Klinsmann bekam auch so die Kurve und wurde drei Monate nach dem Fiasko von Florenz als Vater des Sommermärchens gefeiert. Löw erlebte den Stimmungswandel damals als Co-Trainer hautnah mit, nun muss er diesen nach seiner Schmach von Sevilla herbeiführen – dabei bekommt er Tipps von Klinsmann.

Löw müsse jetzt "durch die Gegend fliegen und alle Spieler individuell oder in kleinen Gruppen treffen und viel kommunizieren". Es sei jetzt "ganz, ganz wichtig", die absoluten Führungsspieler im Team auf seine Seite zu ziehen, um damit "alle ins selbe Boot zu holen", sagte Klinsmann dem US-Sender ESPN und brachte Löws größtes Problem auf den Punkt: "Das ist sehr viel Arbeit, aber nur wenig Zeit."

In sieben Monaten beginnt die EM mit Vorrundenspielen gegen Weltmeister Frankreich und Titelverteidiger Portugal. Beim desaströsen 0:6 zum Nations-League-Abschluss in Spanien präsentierte sich nur Torhüter Manuel Neuer in EM-Form. Zwar sicherte der Deutsche Fußball-Bund (DFB) Löw nach der Rückkehr seine Rückendeckung zu, doch der Bundestrainer steht weiter massiv in der Kritik.

Analyse erwünscht

Intern wird von Löw und seinen Assistenten laut kicker in den kommenden zwei Wochen eine erste Analyse erwünscht. Da ist ein "einmaliger Blackout" wird als Begründung nicht ausreichen. DFB-Präsident Fritz Keller erwartet, dass das Debakel "gründlich analysiert und die nötigen Folgerungen daraus gezogen werden". Denn Keller ist sich mit Blick auf das Leistungsvermögen der DFB-Auswahl sicher: "Das Potenzial hat sie."

Rückendeckung erhielt Löw für seinen eingeschlagenen Weg mit jungen Spielern – auch aus der Bundesliga. Für Leipzigs Trainer Julian Nagelsmann sei mit dem "Prunkstück des deutschen Fußballs", das die Nationalelf sei, "etwas menschlicher umzugehen". Er wünsche sich daher den Diskurs "etwas neutraler oder mehr fußballspezifisch vielleicht und nicht so eine abwertende Wortwahl von Experten genauso wie von den Medien".

Dennoch ist jetzt Löw am Zug. Nach dem WM-Desaster 2018 werden Ergebnisse gefordert. Keller, der vor der zweithöchsten Niederlage der deutschen Länderspielgeschichte, das EM-Halbfinale als Minimalziel ausgerufen hatte, sieht die "Herausforderung weiterhin darin, eine starke Mannschaft zu formen für die nächsten drei großen Turniere".

Rolle rückwärts?

Löw muss zentrale Fragen beantworten: Wie bekommt man die wacklige Abwehr dicht? Welches System führt zum Ziel? Wer sind meine Führungsspieler? "Die Hierarchie", betonte Klinsmann, "ist sehr wichtig."

Damit stellt sich für den Bundestrainer eine weitere Frage: Mache ich die Rolle rückwärts und hole die aussortierten Weltmeister Thomas Müller, Mats Hummels und Jerome Boateng doch noch zurück? Löw würde dadurch enorm an Ansehen verlieren, die Hierarchien müssten sich neu bilden. "Wer Jogi Löw kennt, der weiß, dass er ein bisschen stur ist in gewissen Entscheidungen", sagte der ehemalige DFB-Kapitän Michael Ballack bei Sky. Dass lautstarke Führungsspieler wie Hummels und Müller in Sevilla schmerzlich vermisst wurden, ist aber auch Löw nicht entgangen.

Scheitert er an diesen Fragen, ist seine Zeit abgelaufen. Die Namen möglicher Nachfolger geistern schon durch den Raum. Jürgen Klopp, für viele der Wunschkandidat, ist aber noch bis 2024 an den FC Liverpool gebunden. Bayern-Trainer Hansi Flick, der Löw 2014 beim WM-Triumph assistierte, ist ebenfalls nicht verfügbar. Als schnelle Lösung stünden Ralf Rangnick und U21-Coach Stefan Kuntz bereit.

Vor 14 Jahren stand angeblich Matthias Sammer schon als Klinsmann-Nachfolger für die WM parat. Es kam anders, das Turnier ging als Sommermärchen in die deutsche Fußball-Geschichte ein. (sid, 19.11.2020)