In Warschau wie auch in Minsk fanden in den vergangenen Wochen immer wieder Frauenmärsche statt.

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"Wypierdalać!", "Fuck off!" Diese rüde Aufforderung ist dieser Tage in Polen landauf, landab zu hören und zu lesen, bei Demonstrationen und im Alltag. Der zornige Slogan ist allgegenwärtig.

Ein roter Blitz ist das zweite Symbol der Frauenproteste, die seit bald drei Wochen das Land in Atem halten. Der Blitz ziert sogar Schutzmasken. In ihrer Hilflosigkeit fiel der rechtsnationalen PiS-Regierung nichts Besseres ein, als den Blitz zum Kennzeichen der SS zu erklären, womit die Frauen in die Nähe der Nazis gerückt werden sollen.

Ein roter Blitz ist das zweite Symbol der Frauenproteste.
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Auslöser für die Proteste war die kürzliche Entscheidung des Verfassungsgerichts, das Recht auf Abtreibung, schon bisher nur in wenigen Ausnahmefällen erlaubt, faktisch abzuschaffen. Wie schon in der Vergangenheit, als das Regime versuchte, die Abtreibungsgesetze zu verschärfen, rufen die Frauen zu Massenprotesten auf, denen sich viele Männer anschließen.

Das Regime reagiert mit nackter Gewalt, andere Optionen werden gar nicht erst erwogen. Doch die Frauen sind stark, sie lassen sich nicht einschüchtern von Schikanen, Drohungen und prügelnden Polizisten, und schon gar nicht von den von Kaczyński und seinen Handlangern mobilisierten Schlägerbanden rechtsradikaler Hooligans und offener Faschisten, die von kirchlichen Würdenträgern als wackere Verteidiger des christlichen Polen gepriesen werden.

Zivilisatorische Veränderungen

Inzwischen gelten die Proteste längst nicht mehr "nur" dem fatal an die Nazi-Gesetzgebung erinnernden Abtreibungsverbot. Sie richten sich vielmehr gegen das gesamte "national-katholische und patriarchale System der Unterdrückung", wie das die Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk ausdrückt, die "eine zivilisatorische Veränderung" heraufdämmern sieht.

Eine zivilisatorische Veränderung, eine Revolution mit dem Ziel eines neuen Polens, ohne den Ballast der alten, bigotten, frauenverachtenden Politiker und Kleriker. Das erklärt die Panik, mit der diese auf die Protestbewegung reagieren.

Die Frauen sind stark, sie lassen sich nicht einschüchtern von Schikanen, Drohungen und prügelnden Polizisten.
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Die katholische Kirche, Kardinäle und Bischöfe, aber auch gewöhnliche Kleriker, ergreifen in dieser Auseinandersetzung, bis auf wenige Ausnahmen, die Partei Kaczyńskis und seiner Handlanger. In den Kirchen wird wütend gegen alles gewettert, was auch nur entfernt nach liberal riecht, gegen die EU, den "unmoralischen Westen", LGBT und anderes Teufelszeug, das es mit Stumpf und Stiel auszurotten gilt, um das "große katholische Polen" zu retten.

Dieser Kurs könnte für die Kirche fatale Folgen haben. Schon bisher hat sie durch ihre reaktionäre, menschenverachtende Haltung viel Glaubwürdigkeit bei den Menschen eingebüßt, nicht nur bei jenen, die jetzt auf die Straße gehen. Man denke nur an die zahlreichen von der Kirche bis heute gern vertuschten und geleugneten Missbrauchsfälle, die inzwischen auch den polnischen Papst eingeholt haben.

Liberale Medien weisen unverblümt darauf hin, dass sich Johannes Paul II. nie für die Verbrechen der Kinderschänder in Soutanen entschuldigt hat, im Gegenteil, er hat viele sogar gedeckt. Solche Enthüllungen wären in Polen bis vor kurzem undenkbar gewesen.

Begleiterscheinung

"So schaut Demokratie aus": Der Blitz ziert Oberkörper wie Schutzmasken beim Protestmarsch in Warschau.
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Jahrzehntelang haben die Kommunisten nichts unversucht gelassen, um die Kirche zu diskreditieren und ihr die Gläubigen abspenstig zu machen – vergeblich. Jetzt ist die katholische Kirche auf dem besten Weg, sich selber zu zerstören und die Laizisierung des Landes voranzutreiben. Auch das eine unerwartete Begleiterscheinung der Frauenproteste.

Eine ganz ähnliche Situation bietet sich in Belarus dar. Auch Belarus wird seit Wochen von heftigen Protesten erschüttert, in denen die Frauen eine führende Rolle einnehmen. Hier war der Auslöser die plump gefälschte Wahl, mit der sich Diktator Alexander Lukaschenko eine sechste Amtszeit sichern wollte.

Von vielen Ländern, auch Österreich, wird der Usurpator nicht mehr anerkannt, was ihn nicht daran hindert, mit hemmungsloser Brutalität gegen die Hunderttausenden vorzugehen, die auf der Straße gegen ihn protestieren. Einstweilen kann er sich noch auf die Polizei und das Militär stützen.

So wie in Polen lassen sich auch in Belarus die Menschen nicht länger durch Massenverhaftungen und den Terror der gefürchteten Sondereinheit Omon einschüchtern, obwohl erst kürzlich ein toter Demonstrant zu beklagen war. In ihrer Ratlosigkeit greifen die belarussischen Behörden sogar zur erprobten sowjetischen Methode, unliebsame Regimegegner zwangsweise ins Ausland abzuschieben.

Auch Belarus wird seit Wochen von heftigen Protesten erschüttert, in denen die Frauen eine führende Rolle einnehmen.
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Verfemte Außenseiter

Belarus und Polen gelten im freien Europa als verfemte Außenseiter. Zumindest im Fall von Belarus spielt das Putin in die Hände, der auf diese Weise seinen Zugriff auf das Land weiter festigen kann.

Bisher hat Putin seinem Bundesgenossen Lukaschenko die Treue gehalten, wenn auch mit sinkender Begeisterung. Er braucht Ruhe in Belarus, auch wenn es eine Grabesruhe ist. Durch seine Rolle als Stütze des wankenden Diktators läuft Putin Gefahr, auf lange Sicht Belarus zu verlieren, so wie er die Ukraine verloren hat.

Es ist kein Zufall, dass in Belarus und Polen Frauen in vorderster Front stehen. "Das weibliche Gesicht ist ein besonderes Kennzeichen der Revolution in Minsk und in anderen Städten", sagt die belarussische Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, die sich in ihren Werken immer wieder mit der bisher viel zu wenig beachteten Rolle der Frauen, etwa auch im Zweiten Weltkrieg, beschäftigt hat.

"Das weibliche Gesicht ist ein besonderes Kennzeichen der Revolution in Minsk und in anderen Städten", sagt die belarussische Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch.
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Und sie äußert ihre Bewunderung für den Mut der Frauen, die sich, oft weiß gekleidet und mit Blumen in Händen, den schwer bewaffneten, mit Helm, Schild und Körperpanzer gerüsteten Omon-Schergen entgegenstellen, oft um die Männer zu schützen.

Je brutaler der "Schlächter von Minsk", wie Lukaschenko nach den blutigen Prügelexzessen genannt wird, vorgeht, umso hartnäckiger verfestigt sich der Widerstand. Das ist eine neue Qualität: Die Menschen haben keine Angst mehr, obwohl sie allen Grund hätten, den Zorn des Diktators zu fürchten. Sie wissen, dass es jetzt ums Ganze geht, um ihre Freiheit und Würde, um die Seele von Belarus.

"Es gibt kein Zurück", sagt Franak Wjatschorka, außenpolitischer Berater von Swetlana Tichanowskaja, einer der führenden Stimmen der Proteste. "Wenn wir aufhören, auf die Straße zu gehen, dann bricht über Belarus ein nordkoreanischer Winter herein – Säuberungen, Krise, Kerker. Wir können entweder unseren Weg fortsetzen oder für immer emigrieren."

Die weiß-rot-weiße Fahne ist in Belarus zum Symbol des Protestes geworden.
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Tritt ab, ruft Swetlana Alexijewitsch

Bei allen Unterschieden haben Lukaschenko und Kaczyński eines gemeinsam: Sie haben Angst. Höllische Angst. Angst, ihre Macht zu verlieren und zur Rechenschaft gezogen zu werden. Vor allem aber haben sie Angst vor den Frauen, die sich nicht länger unterdrücken und kujonieren lassen. In Erinnerung ist ein Bild von Lukaschenko, der vor einer Fernsehkamera mit einer Kalaschnikow herumläuft.

Der notorische Frauenverächter Lukaschenko hat seine weiblichen Counterparts nie wirklich ernst genommen, er nennt sie mit typisch patriarchalischer Arroganz, gepaart mit Dummheit, abfällig "unglückliche kleine Mädchen", die von ihm wie einem strengen Vater in die Schranken gewiesen werden müssten. Das kann er sich abschminken.

Inzwischen bieten ihm die "kleinen Mädchen" offen die Stirn und fordern ihn auf, endlich zu verschwinden. "Tritt ab, bevor es zu spät ist, bevor du die Nation in einen schrecklichen Abgrund stürzt, in den Abgrund des Bürgerkrieges. Tritt ab!", ruft Swetlana Alexijewitsch dem Diktator zu.

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Es liegt auch an uns, im liberalen Westen, die Bemühungen der Menschen in Belarus und Polen zu unterstützen, vor allem der Frauen, die eine extra schwere Bürde zu tragen haben.
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Es ist nicht undenkbar, dass es Lukaschenko noch einmal gelingt, die Revolution gewaltsam, mit hohen Verlusten, niederzuschlagen, doch das revolutionäre Feuer kann er nicht mehr restlos austreten.

So wie es Kaczyński nicht gelingen wird, Polen endgültig zu pazifizieren, mag er noch so skrupellos und brutal gegen die Protestierenden vorgehen. Gesetzt den Fall, dass sich die Proteste hier wie dort abschwächen, so ist sicher, dass sie bei der nächsten Gelegenheit mit neuer Wucht ausbrechen werden. Das Rad lässt sich nicht zurückdrehen.

Es liegt auch an uns, im liberalen Westen, die Bemühungen der Menschen in Belarus und Polen zu unterstützen, vor allem der Frauen, die eine extra schwere Bürde zu tragen haben. Was die EU und unsere Regierung bisher in der Richtung geleistet haben, ist beschämend.(Martin Pollack, ALBUM 22.11.2020)