Was in der Schule beginnt, braucht weitere Angebote in der Freizeit, damit Integration gelingen kann.

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Warum fühlt sich ein 20-Jähriger, der eigentlich fast noch ein Kind ist, so unverstanden, ist so voller Hass und findet keine Form von Zugehörigkeit in dem Land, in dem er 20 Jahre gelebt hat? Genau diese Frage müssen wir uns jetzt stellen, so unangenehm sie auch sein mag, denn unzähligen Jugendlichen fehlen Halt und Zugehörigkeit in Österreich. Ihnen fehlt jedes Gefühl einer Identität. Wo nehmen wir unsere gesellschaftliche Verantwortung wahr, und was können wir tun, um sie bei der Suche nach ihrer Identität zu unterstützen?

Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund lernen schnell, sich genau darüber zu identifizieren – ihre Herkunft. "Und woher kommst du?" ist die erste Frage, die sich die Jugendlichen der Vienna Hobby Lobby stellen, wenn sie ein neues Kind kennenlernen. Die Kinder weisen zu 95 Prozent Migrationshintergrund auf. Viele von ihnen sind in Österreich geboren, manche bereits vor einigen Jahren hierher gekommen, andere erst 2015 oder später. Neben ihrer Liebe zu Kickboxen, Schauspielen, Tanzen oder Yoga verbindet sie aber vor allem eins: Sie fühlen sich in Österreich nicht unbedingt verstanden oder aufgenommen. Sie sind nicht sicher, wo ihr Platz ist oder ob sie hier überhaupt einen Platz haben.

Wer und was bin ich?

"Bin ich Österreicherin oder Türkin? Kann man überhaupt beides gleichzeitig sein?", fragte eine Teilnehmerin des Yogakurses neulich erst ihre Freundin. In einer Gesellschaft, die ihnen oft den Spiegel vorhält, sie als Migrant*innen und Ausländer*innen abstempelt, ist es für sie besonders schwierig, einen Platz zu finden. Sie werden auf Basis ihrer Deutschkenntnisse beurteilt, Fehler sind für sie nicht erlaubt. Allzu oft nur wird ihnen deutlich gemacht, dass sie kein Teil dieser Gesellschaft sein dürfen. Die österreichische Identität wird ihnen oft abgesprochen, obwohl Österreich ihr Zuhause ist.

Wie kann jemand anderer darüber entscheiden, was zur persönlichen Identität von Jugendlichen gehört und was nicht? Wenn wir Jugendlichen ihre Identität nehmen, wenn wir ihnen klarmachen, sie gehören weder hier- noch dorthin, dann fühlen sie sich verloren – "lost", nicht umsonst das Jugendwort des Jahres 2020. Wir alle wollen uns doch einfach nur irgendwo zugehörig fühlen und ein Teil von etwas sein; einen Ort haben, wo wir wertgeschätzt und gesehen werden. Indem wir diesen Jugendlichen diese Möglichkeit verwehren, begünstigen wir die Möglichkeit, sie in die Arme radikaler Gruppen zu leiten.

Akzeptanz, Platz geben

Das Wichtigste für diese Kinder ist, dass sie so akzeptiert werden, wie sie sind – und sich zugehörig fühlen. Verwehren wir ihnen also einen Platz in der Gesellschaft, suchen sie umso mehr nach Sicherheit und Zugehörigkeit. Hindern wir sie daran, ihre Identität zu finden, werden sie offener für radikale Gedanken. Dort finden sie Halt, sie sind Teil von etwas, sie werden aufgefangen und scheinbar beschützt. Es ist unsere Aufgabe als Gesellschaft, diesen Jugendlichen den Rückhalt, die Sicherheit und, am wichtigsten, die Anerkennung zu geben, die sie verdienen. Wenn sich Kinder und Jugendliche radikalen Gruppierungen anschließen, ihr Gedankengut teilen, haben wir als Gesellschaft es nicht geschafft, sie ihren eigenen Platz finden zu lassen. Wir haben es nicht geschafft, ihnen das Gefühl zu geben, Teil von uns zu sein oder dazuzugehören. Wir haben sie verloren.

Die Frage nach Identität ist für sie eine ganz große, deswegen wäre es auch gerade jetzt so wichtig, ihnen identitätsstiftende Angebote zu geben. Welche Antwort wollen wir auf "Was macht dich aus?" hören? Ist es "Ich bin ein richtig guter Serbe" oder ist es "Ich bin ein richtig guter Schauspieler"? Wir müssen ihnen mehr Wege liefern, sich zu identifizieren, als nur über die eigene Herkunft oder die Frage danach. Sie sollen verstehen und spüren, dass es da noch mehr gibt und sie so viel mehr ausmacht.

Stärkung und Selbstwert aufbauen

Dazu gilt es, ihre Persönlichkeit und ihr Selbstvertrauen zu stärken. Wenn wir ihnen keine Angebote liefern, die sie in ihrem Charakter und ihrem Selbstwert stärken, sie in die Gesellschaft inkludieren und sie als einen Teil von etwas betrachten, dürfen wir uns als Gesellschaft nicht wundern, wenn wir diese Kinder an radikalisiertes oder extremistisches Gedankengut verlieren, das ihnen genau dieses fehlende Gefühl gibt.

Anstatt Jugendliche also über ihren Migrationshintergrund zu definieren, geben wir ihnen Platz und Zugehörigkeit in der Gesellschaft sowie die Möglichkeit, die eigene Identität selbst zu definieren – abseits von der Herkunftsfrage.

Wir müssen uns fragen, wo wir jenen 20-Jährigen verloren haben, der am 2. November zum Attentäter wurde. Wäre der 2. November anders verlaufen, wenn er statt Ausgrenzung und radikaler Worte Zuspruch und Lob im kreativen Streetart-Kurs bekommen hätte? Es wäre ein großer Fehler, wenn wir jetzt nicht umdenken und alle Kinder in unserer Gesellschaft stärken und inkludieren. Denn all diese Kinder haben so viel zu geben, so schöne Geschichten zu erzählen und so viele Potenziale zu entdecken. Lassen wir sie bitte ein Teil unserer Gesellschaft sein! (Rosa Bergmann, Magdalena Zak, 21.11.2020)