Paul Celan mit den Wienern der Gruppe 47 bei einer Lesung in Niendorf 1952: Paul Celan, Milo Dor, Hans Weigel, Hans Werner Richter, Ilse Aichinger, Reinhard Federmann, Ingeborg Bachmann (v. li.).

Foto: H. Meyer-Pfundt, DLA Marbach

In einer eisigen Dezembernacht des Jahres 1947 überschreitet der Dichter Paul Celan, vermutlich mithilfe eines Schleppers, illegal die österreichische Grenze und erreicht drei Stunden später den Ort Schallendorf im Südburgenland. Hinter ihm liegt nicht nur ein viele Wochen dauernder Fußmarsch seit seiner Flucht aus Bukarest, sondern mehr: Verlust der Heimat, Zwangsarbeit im rumänischen Arbeitslager, Trauer um die ermordeten Eltern.

1920 wurde er als Paul Antschel in eine deutschsprachige jüdische Familie geboren. Von seiner früheren Existenz ist ihm nichts als ein Packen Gedichte geblieben. Jetzt ist er eine DP (Displaced Person), eine Bezeichnung für die durch den Krieg entstandene unübersehbare Zahl der Vertriebenen, Verfolgten, Überlebenden aus den NS-Lagern.

Celans Ziel ist Wien. Nach einigen Tagen Aufenthalt im Rothschild-Spital und im DP-Lager Arzbergergasse bezieht er kurz vor Silvester seine erste Bleibe, ein Kellerstübchen in der Pension Pohl, Rathausstraße 20, Wien 1010. Seine Gedichte sind vor ihm angekommen, sein Freund und Mentor Alfred Margul-Sperber hat sie an Otto Basil geschickt, der eine ambitionierte Zeitschrift herausgibt, den Plan.

Intellektueller Neubeginn

Bereits vor dem Krieg gegründet und gleich nach Kriegsende wieder aufgenommen, stellt der Plan einen intellektuellen Neubeginn von Österreichs Kulturleben dar, mit dem Ziel, nach den Jahren geistiger Isolation internationale Strömungen in der Literatur, bildenden Kunst und Musik bekanntzumachen und junge österreichische Autoren zu publizieren. Die Bandbreite ist groß, selbst der zu der Zeit noch mit Publikationsverbot belegte Heimito von Doderer erscheint, wenn auch unter einem Pseudonym.

Otto Basil erkennt sofort das Außerordentliche von Paul Celans Lyrik, und so erscheinen schon kurz nach Celans Ankunft in Wien siebzehn Gedichte in der Jännerausgabe des Plan. Der junge Dichter aus der Bukowina, obwohl traumatisiert und erschöpft von der schweren Reise, verzaubert in kürzester Zeit die gerade erwachte junge Wiener Kulturszene.

Ein Treffpunkt ist das Atelier des Malers Edgar Jené in einem zerbombten Haus am Althanplatz (heute Julius-Tandler-Platz). Celan lernt hier eine Reihe von Menschen kennen, die in der Folge für sein Leben bedeutend sein, manche davon ihn lebenslang begleiten werden – Ingeborg Bachmann, die damals noch mit Hans Weigel als Paar auftritt, den in Belgrad aufgewachsenen Schriftsteller Milo Dor und seinen Freund Reinhard Federmann, nicht zuletzt den jungen Dichter Klaus Demus, den Celan in Briefen immer wieder mit "Bruder" anspricht.

Das letzte Heft des "Plan" mit 17 Gedichten von Celan.
Foto: Fotograf unbekannt

Nichts hinter dem Vorhang

Der Maler Edgar Jené stammt aus Saarbrücken, hat in Paris studiert und lebt, in Deutschland als "entarteter Künstler" verfemt, seit 1935 in Wien. Er ist korrespondierendes Mitglied der surrealistischen Gesellschaft, ein persönlicher Freund von André Breton und besitzt eine fast vollständige Bibliothek surrealistischer Werke.

Durch Jenés Bemühungen, unterstützt vom Plan, der die Gruppe von Künstlern rund um ihn in mehreren Heften vorstellt, erlebt der Surrealismus, vor dem Krieg weitgehend an Wien vorübergegangen, in dieser Zeit eine kurze Blüte.

Celan, der seit seinen Jahren in Rumänien mit surrealistischer Malerei und Poesie vertraut und in seiner eigenen Lyrik stark davon beeinflusst ist, steht neben Edgar Jené im Mittelpunkt dieser Entwicklung: "Er ist hier sozusagen der Papst des Surrealismus", schreibt Celan in einem Brief über Jené. "Und ich bin sein einflussreichster (einziger) Kardinal."

In der Agathon-Galerie am Opernring 19 – im selben Haus hat auch der Plan seinen Redaktionssitz – eröffnet am 24. März 1948 die erste Surrealistenausstellung mit Bildern von Edgar Jené, Arnulf Neuwirth, genannt Abu Nif, und Rudolf Hoflehner im Mittelpunkt.

Jenés Erinnerung daran: "Celan half uns eifrig, schrieb für das Faltblatt der Einladung ,Eine Lanze für den Surrealismus‘ und steuerte sogar ein von ihm signiertes ‚Werk‘ bei. Es bestand in einem losen schwarzen Vorhang, darunter ein leerer Rahmen. Er war ein wenig stolz auf seinen Einfall: das Nichts hinter dem dunklen Vorhang, den aufzuheben die Erwartung stets bereit ist." Die Österreichische Zeitung lobt Edgar Jené, Celan aber kommt schlecht weg: "Über Paul Celans Abstecher (soll man die mit zwei Reißnägeln auf ein Blatt Papier genagelte Augenmaske als Werk bezeichen?) wollen wir hinwegsehen."

Wortmächtige Darstellung

Zehn Tage später folgt, wieder in der Agathon-Galerie, eine Lesung surrealistischer Lyrik, bei der auch Celans Gedichte vorgetragen werden. Der Text auf dem Einladungsblatt ist von Celan und Jené verfasst: "Wieder wird der große Hammer geschwungen, und wen soll er zermalmen, wenn er niedersaust? Ein Geschöpf, den Menschen nicht mehr ähnlich, eine Missgeburt aus Sodom, Methusalems letzten Spross, gezeugt mit seiner Todesstunde: den Surrealismus."

Im Agathon-Verlag erscheint auch Celans erste Buchpublikation, der Essay Edgar Jené.Der Traum vom Traume. Celans "Wanderung durch die Tiefsee" ist weniger die Interpretation eines Malers und seines Stils als die wortmächtige Darstellung einer surrealen Welt, in die er durch die "Wände und Einwände der Wirklichkeit" gelangt ist, wo die "heiliggesprochene" Vernunft abgedankt hat, "wo so viel geschwiegen wird und so viel geschieht".

Sieht man vom Gegenstand der Beschreibung ab, klingt das wie die Erinnerung an die Schrecken seiner eigenen Vergangenheit, über die er zu dieser Zeit so gut wie gar nicht spricht. Selbst im Kreis derer, die ihn gut kennen und mögen, bleibt er ein Außenseiter. Als "bescheiden, verhemmt, beinahe furchtsam, verhungert und abgerissen", beschreibt ihn Otto Basil.

"Er hat sich nicht zugehörig gefühlt", erklärt sein Freund Klaus Demus. "Ein lauter, wüster Geselle und Rebell" ist er für Hans Weigel – dessen Urteil vielleicht durch Eifersucht getrübt ist, denn an anderer Stelle nennt er ihn wortkarg und verschlossen. Als "der Fremde" erscheint er in Ingeborg Bachmanns Erzählung Die Geheimnisse der Prinzessin von Kagran.

Nur wenige Monate in Wien

Celans Aufenthalt in Wien dauert nur wenige Monate, doch der Eindruck, den er in der Wiener Literaturszene hinterlässt, ist groß. Zwei literarische Porträts zeugen davon: in dem von Milo Dor und Reinhard Federmann gemeinsam verfassten Kriminalroman Internationale Zone und in Hans Weigels Schlüsselroman über seine Beziehung mit Ingeborg Bachmann, Unvollendete Symphonie.

Historisches Foto einer Kapelle in Schallendorf.
Foto: Fotograf unbekannt

Weigels literarischem Zirkel im Café Raimund will sich Paul Celan nicht anschließen. Er hält nichts von Weigel, obwohl der seine Gedichte bewundert und später auch einige in seiner Anthologie Stimmen der Gegenwart 1951 veröffentlicht. "Weigel ist sicher ein blöder Angeber", schreibt Celan – was ebenfalls nach Eifersucht klingt –, "ein ‚Schmock‘, wie man auf Deutsch sagt, der auch nichts von Poesie versteht."

Im Sommer 1948 verlässt Celan Wien. Das Erscheinen seines ersten Gedichtbands Der Sand in den Urnen, im Entstehungsprozess von viel Ärger begleitet, wartet er nicht ab, sondern überlässt es Edgar Jené, sich um das Layout und die Fahnenkorrekturen zu kümmern. Das gedruckte Buch ist dann ein Schock für Celan. Schlechtes Papier, billiger Druck, den Sinn verzerrende Druckfehler. Die zwei Illustrationen Jenés, eine davon zur Todesfuge, sind für ihn "Beweise äußerster Geschmacklosigkeit".

Er verlangt, das Buch aus dem Verkehr zu ziehen. Der Sand in den Urnen bedeutet den Bruch der Freundschaft mit Edgar Jené, wenn sie sich auch später in Paris wiedersehen und versöhnen, Celan die sogar innige Beziehung mit Jenés Frau, der Kinderbuchautorin Erica Lillegg, weiter pflegt.

Anfänglich übersetzt Celan in Paris noch französische und rumänische Surrealisten, doch bald darauf kommt es zu seiner totalen Abkehr. Ab 1950 wünscht er, sein Werk nicht mehr dem Surrealismus zuzuordnen, Jené verweigert er eine neuerliche Veröffentlichung der Lanze.

In Wien hat Paul Celan eine unauslöschliche Spur hinterlassen. Die kurze Periode des Surrealismus endet mit seinem und Jenés Fortgang, doch in der Folge entwickelt sich daraus die für die österreichische Kunst äußerst fruchtbare Wiener Schule des Phantastischen Realismus. Ihre Vertreter, unter ihnen Ernst Fuchs, Rudolf Hausner, Arik Brauer und Wolfgang Hutter, sind bis heute populär. (Susanne Ayoub, ALBUM, 21.11.2020)