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Monika Rinck: Professorin für Sprachkunst.

Foto: Picturedesk.com / dpa / Patrick Seeger

STANDARD: Sie haben die Professur am Institut für Sprachkunst in einem Ausnahmesemester übernommen. Wir befinden uns nicht nur am Beginn eines zweiten Lockdowns, in Wien gab es auch einen Terroranschlag, bei dem eine Studierende der Angewandten ums Leben kam und einer schwer verletzt wurde. Was bedeutet das für Sie und die Studierenden?

Monika Rinck: Das ist wirklich eine schwierige Situation. Aber meine Kolleginnen und ich (das heißt Gerhild Steinbuch, Leiterin des Instituts für Sprachkunst, Sabine Konrath, Universitätsassistentin, und Samira Hamdi, Sekretärin) versuchen in diesen Tagen, den Studierenden eine ferne Form von Halt und zumindest digitaler Präsenz anzubieten. Natürlich ist der freie Umgang, mit all seinen Routinen und heilsamen Ritualen, nicht zu ersetzen, aber wir bemühen uns, dafür Sorge zu tragen, dass das Institut sozusagen feinstofflich als Raum bestehen bleibt. Arbeit am Text kann ja auch dann eine wohltuende Tätigkeit sein, wenn sich der Text mit einem bedrückenden Thema auseinandersetzt.

STANDARD: Sie stehen für eine politische Poetik. Schreiben und Lesen als ästhetischer Widerstand? Das Gedicht als Sozialkritik?

Rinck: Dies lässt sich nur im gesellschaftlichen Kontext beantworten. Denken Sie an die Verse des türkischen Dichters Turgut Uyar, die 2014 während der Proteste um den Gezi-Park zu einer großen politischen Kraft wurden, obwohl sie sich, sozusagen auf dem Blatt, nicht ohne weiteres als politische Gedichte zu erkennen geben. "Wir sind die Verse von Turgut Uyar!", riefen die Protestierenden und sprayten seine Verse auf Häusermauern. Ähnliches geschah mit einem Gedicht des ungarischen Dichter István Kemény, das viele vielleicht gar nicht als politisches Gedicht bezeichnen würden. Ich würde sagen: Bewusste Sprachkritik, Skepsis gegenüber manipulativen und feindseligen Verwendungen von Sprache, gute Neubeschreibungen können schon eine Vorform von Widerstand sein.

STANDARD: "Weil das Gedicht kein Geld hat, hat es Zeit", das haben Sie in einem Prolog zur Zukunft der Literatur geschrieben. Was können Gedichte jetzt ausrichten?

Rinck: Gedichte ohne Leser und Leserinnen können gar nichts oder so gut wie nichts. Lesen ist natürlich eine genügsame Kulturtechnik, die man gut allein in einem Zimmer verwirklichen kann, gerade wenn es wie derzeit wenig Ablenkung gibt. Aber was ist verwirklichte Lektüre? Das Lesen von Gedichten dient nicht der Beruhigung oder Erholung, sondern eher der Unruhe und Belebung. Zum Beispiel las ich gerade die Gedichte von Maria Stepanova: Der Körper kehrt wieder, übersetzt von Olga Radetzkaja, sehr zu empfehlen.

STANDARD: Bekommt Lyrik insgesamt wieder mehr Gewicht bzw. Bedeutung? Siehe Nobelpreis, die Menge an Neuerscheinungen und die Auswahl an Preisträgern etc.

Rinck: Solange wir von Auflagen in niedriger vierstelliger Höhe ausgehen, sehe ich das nicht. Was gut ist: Es kommen mehr unterschiedliche Gattungen und Schreibweisen in den Blick: der Essay, das Nature- und Life-Writing, die Ich-Fiktionen, Science-Fiction, Mischformen aus vielem, wie z. B. Die Zuckerfabrik von Dorothee Elmiger oder das fantastische Buch made in china von Lea Schneider.

STANDARD: Wird die Pandemie mit ihrem Hang zu eigenartigen Wortneuschöpfungen (Präsenzveranstaltung, Hybridsemester, Abstandsregel ...) in die Lyrikproduktion eingehen?

Rinck: Das ist bereits jetzt zu sehen. Ob die pandemischen Neologismen notwendigerweise darin vorkommen müssen, weiß ich nicht, aber das Virus, die monothematische Atmosphäre, das Vorherrschen eines einzigen Themas in all seinen Facetten, das Überdenken des Körpers als gleichzeitig gefährlich und gefährdet, der Umbau des Literaturbetriebs, all das kommt zur Sprache. Interessant ist hier auch das Projekt Coronas Wörter, eine Gesprächsreihe der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Kooperation mit dem Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS), die im Netz zu finden ist: www.deutscheakademie.de.

STANDARD: Sie übersetzen auch aus dem Ungarischen. Sie haben Liedertexte geschrieben und mit der Rotten Kinck Show performt. Ihr Buch Champagner für die Pferde ist ein "Lesebuch" und versammelt Gedichte, Prosa und Essays. Sind Sie für eine größtmögliche Vermischung aller möglichen Gattungen?

Rinck: Ich habe vor etwa 18 Jahren gemeinsam mit der ungarisch-deutschen Dichterin Orsolya Kalász damit begonnen, wir arbeiten als Tandem und treffen uns in der Mitte, wobei ich die Zielsprache vertrete und sie die Ursprungssprache, oder wie Orsolya zu sagen pflegt: Ich verteidige die ungarische Seele und Monika die deutsche Grammatik. Ungarisch spreche ich nicht. Was die Frage nach der Mischung angeht: Ich nehme Genrebezeichnungen gerne als Lektürehinweise: Lies dies als Roman, lies dies als Gedicht. Ich bin an sich schon eine Freundin der Mischung, aber man muss auch nicht alles mischen.

STANDARD: Ein Abschnitt in Ihrem aktuellen Gedichtband Alle Türen heißt "Das Prinzip der Operette und seine Grenzen". Österreich wird auch als Operettenstaat bezeichnet. Was waren Ihre Gedanken, als Sie entschieden, nach Wien zu kommen?

Rinck: Offenbachs Operetten, um die es mir ging, sind ja eher mit Paris assoziiert als mit Wien, wobei ich auch Stefan Georges Geheimes Deutschland für einen Operettenstaat halte. Schauen wir mal, ich bin ja erst seit einem Monat hier, wenn auch nicht zum ersten Mal. Ich mag Wien sehr gerne und schätze das Institut für Sprachkunst, an dem ich in der Vergangenheit einige Male unterrichten konnte, enorm.

STANDARD: Diese Woche beginnt Ihre Frankfurter Poetik-Vorlesung an der Goethe-Uni zum unglaublich passenden Thema "VORHERSAGEN, Poesie und Prognosen". Was werden wir in dieser digitalen Vorlesung zu hören bekommen?

Rinck: Die erste Vorlesung widmet sich dem Orakel von Delphi und endet dann (Exit through the Giftshop) im Berliner Futurium. Die zweite trägt ein Schlagwort im Titel: Neofuturismus, das ist ein Futurismus, der sich der Zukunft nicht mehr ganz sicher sein kann. Es geht um Nachhaltigkeit und Vergeudung als zwei unterschiedliche ästhetische Ökonomien. Und in der dritten spreche ich darüber, was es bedeutet, in der Zukunft zu leben.

STANDARD: Sie folgen damit 65 Autoren und 17 Autorinnen. Gibt es noch immer zu wenige weibliche Stimmen in der Literatur?

Rinck: Ja, sicherlich. Ich habe den Eindruck, das ändert sich erfreulicherweise gerade, und das betrifft genauso die literarische Arbeit von nichtweißen Autor:innen, die nach wie vor unterrepräsentiert ist.

STANDARD: Schenken Sie uns zum Abschluss ein Gedicht?

Rinck: Gern.

Viele Gefahren
Viele Gefahren sind da. Eingehen will ich auf:
Gefahr durch Metapher. Also, ich wurde soeben
an meinem Ende der Kette, oder auch: Verkettung
(wenn man so will) durch lauwarme Milch ersetzt.
Ein Spatzenkavalier mit praller Brust. Verlacht. Mich.
Setzen wir jetzt Punkte wie die Bundeswehr? Wir.
Dienen. Dem. Gemisch. Abendbrot und Abendrot.
Worte baggern mich an. Was bleibt? Hotels. Doch –
Hotels sind für touristischen Gebrauch geschlossen.
Was bleibt dann noch übrig? Der ehebrecherische
und der äh, eremitische Gebrauch. Oder renovieren.
Oh, all die renovierungsbedürftigen Hotelzimmer,
wo ich wachlag wie in einem Glas lauwarmer Milch.
Ha! Gerettet. Alles wurde einfach neu bezogen.
Morgen: Gefahren durch Zahnbelag und Frittaten.

(Mia Eidlhuber, ALBUM, 21.11.2020)