In der letzten Woche hat das Königreich Marokko die von Marokko besetzte Zone in der Westsahara an einem wichtigen strategischen Punkt ausgeweitet und die Polisario, die dortige militärische und politische Organisation, aus Guerguerat an der Grenze zu Mauretanien vertrieben. Schon seit Tagen wird über Schusswechsel in der Grenzregion mit Mauretanien berichtet. Mittlerweile hat auch Marokko selbst die Übernahme der kleinen Ortschaft und der Verbindungsstraße nach Mauretanien bestätigt. Die Ortschaft befindet sich an einer strategisch wichtigen Position, weil hier einerseits die einzige Stelle ist, bei der die Truppen der Befreiungsbewegung Polisario eine Verbindung zu ihrem Zugang zum Meer haben und andererseits die Hauptdurchzugsstraße zwischen Marokko und Mauretanien verläuft. Die marokkanische Grenzstation lag bislang in Bir Genduz, nördlich von Guerguerat. Guerguerat war de facto Niemandsland und außerhalb der Kontrolle Marokkos, zugleich jedoch Zugang der westsaharischen Befreiungsbewegung Polisario zum Meer.

Zugang zum Meer

Im Westen von Guerguerat liegt mit dem weitgehend verlassenen La Güera (al-Kuwayra) die einzige Hafenstadt, die nicht von Marokko besetzt wurde, als Mauretanien 1979 den Süden der Westsahara räumte. Im Jänner 2015 bezog die Polisario in La Güera eine dauerhafte Militärpräsenz, um einen Zugang zum Meer zu sichern und um die Straße nach Mauretanien zu kontrollieren. Damit existierte hier, direkt an der Grenze zu Mauretanien, der einzige Zugang der Demokratischen Arabischen Republik Sahara, also der von der Befreiungsbewegung Polisario kontrollierten Teile der Westsahara zum Meer. Nun versucht Marokko offenbar eine Verbindungsstraße nach Mauretanien für den Handel mit dem subsaharischen Afrika zu sichern. Bisher musste bei der Reise von Mauretanien nach Marokko ein von der Polisario kontrolliertes Landstück, das von 1976 bis 1979 mauretanisch besetzt war, durchquert werden. Die Durchquerung des Niemandslandes war gefahrlos möglich, allerdings wurden Zölle eingenommen, die von der Demokratischen Arabischen Republik Sahara für die Versorgung der befreiten Gebiete hinter dem marokkanischen Grenzwall wichtig waren.

Marokko hat die wichtige Handelsstraße übernommen.
Foto: Fadel SENNA / AFP

Hafen- oder Geisterstadt

Die Küstenstadt La Güera (al-Kuwayra) selbst, die erst 1920 von den Spaniern errichtet worden war, hatte 1979 beim Abzug der Mauretanier 816 Einwohner und wurde nach 1979 weitgehend verlassen. Der prekäre Platz im Niemandsland schien wohl wenig Zukunft zu haben. Heute leben dort nur einige Fischer der arabisierten ethnischen Minderheit der Imraguen, die von vielen Stämmen der Umgebung als Menschen mit niederem sozialem Status betrachtet werden. Potentiell ist die auf einer Halbinsel liegende Stadt allerdings strategisch wichtig. Zudem liegen in der Umgebung Öl- und Gasvorkommen, die auf der mauretanischen Seite der Grenze um den Banc-d'Arguin-Nationalpark auch ausgebeutet werden.

Wem gehört die Westsahara?

Nachdem die spanischen Kolonialherren 1975 aus der Westsahara abgezogen waren, besetzten Marokko und Mauretanien das Gebiet. Mauretanien hielt den Süden und Marokko den Norden der Region. Der seit 1973 aktive Befreiungsbewegung Polisario blieben nur einige Wüstengegenden und Oasen im Landesinneren. Dort, in der Oase Bir Lehlu, wurde am 27. Februar 1976 die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) ausgerufen. Die meisten Staatsbürger dieser Republik leben allerdings in Flüchtlingslagern in Algerien. Nachdem sich Mauretanien 1979 zurückgezogen hatte, übernahm Marokko die Küste bis fast zur mauretanischen Grenze. Die DARS baute wiederum im Landesinneren staatliche Strukturen auf. Rund ein Drittel des Landes, mit der derzeitigen provisorischen Hauptstadt Tifariti, steht unter Kontrolle der DARS. Die DARS unterhält zu rund 40 Staaten diplomatische Beziehungen und ist Mitglied der Afrikanischen Union. Die dichter besiedelte Küste, an der bewusst marokkanische Staatsbürger angesiedelt wurden, wird allerdings von Marokko kontrolliert. 1991 wurde zwischen Marokko und der Polisario eine Waffenstillstandsvereinbarung unterzeichnet, der politische Status der Westsahara ist allerdings bis heute nicht gelöst, da lange versprochene Referendum über den Status nie durchgeführt. Die Expansion Marokkos könnte nun den prekären Frieden wieder gefährden. (Thomas Schmidinger, 24.11.2020)

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