Ähnlich wie schon während der globalen Finanzkrise im Jahr 2008 werden auch die gegenwärtigen Turbulenzen der Corona-Pandemie von Politikwissenschafterinnen und Politikwissenschaftern zum Anlass genommen, sich Gedanken über etwaige Veränderungen in der Art und Weise, wie Regierungen Entscheidungen treffen, zu machen. In Krisensituationen stehen Regierungen unter dem Druck, möglichst rasches Handeln an den Tag legen zu müssen, was mitunter auch mit einer Umgehung der traditionellen Vorgangsweisen gemäß parlamentarischen Verfahren einhergehen kann.

Kürzlich sind sowohl in Österreich als auch in Deutschland die jeweiligen Finanzminister wieder vor ihren nationalen Parlamenten erschienen, um ihre Pläne für 2021 vorzustellen sowie darüber hinaus ihre bislang im laufenden Jahr getroffenen Maßnahmen zu rechtfertigen. Diese Budgetpräsentationen sind von erheblichem wissenschaftlichem Interesse, da sie empirische und vergleichbare Einblicke zur Beurteilung des Ausmaßes gewähren, in dem die diesjährigen Ereignisse auf neuartige Tendenzen in der öffentlichen Budgetpolitik hindeuten.

Basisprinzip der Demokratie

In repräsentativen Demokratien besteht die Erwartungshaltung, dass Politikgestaltung im Allgemeinen und Budgetpolitik im Speziellen einen Ausgleich zwischen den Polen der Responsivität und des Verantwortungsbewusstseins (in der internationalen, englischsprachigen Literatur zumeist als "responsiveness" und "responsibility" bezeichnet) herzustellen haben. Durch Bedachtnahme auf das erstgenannte Kriterium erweisen sich Regierungen – je nach parteipolitischen Präferenzen – als empfänglich für die Bedürfnisse unterschiedlicher sozioökonomischer Gruppen. Verantwortungsbezogene Kriterien zielen hingegen auf die langfristige Tragfähigkeit der Staatsfinanzen ab.

Die jüngsten Budgetvorstellungen durch den österreichischen beziehungsweise deutschen Finanzminister vor ihren nationalen Parlamenten bestätigen dieses Basisprinzip der repräsentativen Demokratie. Der Inhalt dieser Budgetreden deutet also stark darauf hin, dass der Mechanismus, über den politische Parteien die Präferenzen der Wählerinnen und Wähler mit tatsächlicher Regierungspolitik verbinden, auch während der andauernden Pandemie zu funktionieren scheint.

Im Falle Österreichs zeigt sich das etwa an der Einführung des 1-2-3-Klimatickets, bei dem es sich um ein Wahlversprechen der Grünen handelt. Die zahlreichen Hilfen für Unternehmen, aber auch die Aufstockung des Polizeibudgets zur Fortführung der Personaloffensive, weisen hingegen deutlich die Handschrift der Volkspartei als eine ihrem Selbstverständnis nach wirtschaftsnahe und sicherheitspolitisch profilierte Partei auf. In Deutschland wiederum ist die Situation insofern ähnlich, als sich in der letzten Budgetrede die verstärkte budgetpolitische Hinwendung zur Behebung sozialer Ungleichheiten fortsetzt, die sich seit der Übernahme des Finanzressorts durch den Sozialdemokraten Olaf Scholz im Jahr 2017 beobachten lässt.

Budgetreden in Ö und D

Parallel dazu spiegeln dieselben Reden aber auch eine übergreifende Anbindung an die Prinzipien der fiskalpolitischen "Verantwortung", also die langfristige Nachhaltigkeit der staatlichen Finanzen, wider. Was sich innerhalb des Diskurses über nachhaltige Staatsfinanzen geändert zu haben scheint, ist aber die Verbreitung der Ansicht, dass zeitweilige Ausweitungen des Defizits durchaus als fiskalpolitisch "verantwortungsbewusst" gelten können. Dies steht sicherlich im Gegensatz zu den Vorstellungen über finanzielle Verantwortung, die als Folge der Eurozonenkrise um sich gegriffen und den Weg hin zu einer Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspakt geebnet hatten. Das während der 2010er-Jahre in der Eurozone vorherrschende politische Paradigma kreiste um das Erreichen und die Absicherung niedriger Schulden- und Defizitniveaus. Diese Position wurde insbesondere von Regierungen aus Ländern nördlich der Alpen vertreten, so auch von Österreich und Deutschland.

In den 2020 gehaltenen Budgetreden des österreichischen und des deutschen Finanzministers werden höhere Schulden- und Defizitstände mit Aussagen wie den folgenden gerechtfertigt:

"Für uns war aber immer klar: Ein Budgetüberschuss ist kein Selbstzweck, er ist die Vorsorge für die Krisen der Zukunft, und das haben wir richtig gemacht. Das Zauberwort bei den Schulden, die wir jetzt machen, lautet: vorübergehend." (Gernot Blümel, österreichischer Nationalrat, 14. Oktober 2020)

Im Oktober stellte Blümel das kommende Budget vor.
Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

"Denn wenn wir jetzt nicht handeln würden, müssten wir in der Folge noch viel mehr Geld einsetzen, und wir würden gleichzeitig die Zukunft unseres Landes verspielen." (Olaf Scholz, deutscher Bundestag, 29. September 2020)

Die beiden Budgetreden signalisieren also einen Wandel im Zugang zur fiskalpolitischen Verantwortung. Während diese während der 2010er-Jahre zumeist im Sinne der Austeritätspolitik gerahmt wurde, wonach von Regierungen erwartet wurde, sich aus der Krise herauszukürzen, wird die Inkaufnahme von Defiziten anno 2020 bisweilen als Ausdruck von Verantwortungsbewusstsein dargestellt – sogar in fiskalpolitisch traditionell eher konservativ ausgerichteten Ländern wie Österreich und Deutschland. Man darf im Vorausblick auf die kommenden Monate und Jahre gespannt sein, ob es sich dabei um eine lediglich temporäre oder doch nachhaltig bestandsfähige Perspektivenveränderung handelt. (Johannes Karremans, Johann Kaltenleithner, 25.11.2020)