Foto: Cross Cult

Mit Vincent Perriots Dinosaurier-Western "Negalyod" hatten wir vergangenes Jahr schon mal eine Graphic Novel, die die Ästhetik von Moebius gekonnt aufgriff. Dem stehen Autor Darcy van Poelgeest, Zeichner Ian Bertram und Colorist Matt Hollingsworth, das Trio hinter "Little Bird", in nichts nach: Das SF-Setting, die Figurenzeichnung, die psychedelischen Elemente und die Pastellfarben, all das könnte einer Schwesterwelt der "Incal"-Reihe entsprungen sein. Doch in einer Graphic Novel, die von Dichotomien geprägt wird, ist dies nur eine Seite der Medaille – die andere sieht deutlich räudiger aus. Außerdem sollte einen das Zuckerlbunt nicht darüber hinwegtäuschen, dass es hier streckenweise äußerst brutal zur Sache geht.

Schöner Schein

Die Gewalt ist in der politischen Konstellation angelegt: Eine neo-katholische Theokratie hält den nordamerikanischen Kontinent (und vermutlich die ganze Welt) im Griff. Es ist eine nivellierende Macht, die alles und alle ihren Dogmen unterwirft. Bei oberflächlicher Betrachtung scheint dieses System Ruhe und Ordnung auszustrahlen, denn hier kommen die sauberen Farben und runden Formen à la Moebius zum Einsatz, die den neuen Vatikan mit seiner fantastischen Architektur und seinen Fluggeräten wie eine iWorld wirken lassen.

Foto: Cross Cult

Ein Blick unter die Oberfläche zerstört die Illusion allerdings schnell: Wenn die putzigen mechanischen Diener, die die Kirchenoberen wie Putten umschwirren (siehe links), ihre Ummantelung öffnen, kommt darunter ein zangenbewehrter Albtraum zum Vorschein. Und wenn wir näher an die Massen der Gläubigen heranzoomen, die sich für eine Predigt versammeln, dann blicken wir in ein Meer von ausgemergelten und von Seuchen gezeichneten Gesichtern.

Die Gegenseite

Von vorneherein auf jeden schönen Schein wird dort verzichtet, wo der Widerstand gegen das System zuhause ist: In der Wildnis des besetzten Kanada halten sich noch letzte Gruppen von Rebellen – darunter zahlreiche genetisch veränderte Mods aller Art –, auch wenn ihre letztliche Niederlage unausweichlich scheint. Es ist eine raue, chaotische, aber dadurch auch lebendigere Welt als die der Kirche. Titelfigur Little Bird, ein kleines Mädchen, das große Kräfte entwickeln wird, ist ein Produkt dieser Welt. Und sie wird in einen Kampf hineingezogen, den vor ihr schon ihre Mutter und ihr Großvater geführt haben.

Foto: Cross Cult

Ganz widerspruchsfrei ist die Geschichte freilich nicht. Filmemacher Darcy van Poelgeest, der die Story von "Little Bird" konzipiert hat, möchte laut eigener Aussage mit seiner Graphic Novel Themen wie Imperialismus und kulturellen Genozid transportieren. Die Zeichnungen Ian Bertrams unterstützen dies: Little Bird ("Ich bin mehr als ein Kind. Ich bin das Land.") ist in einen Fellmantel gehüllt, der an die pazifische Nordwestküstenkultur erinnert, und wird zeitweise von einer Eule (ein Totemtier?) begleitet; Mutter Tantoo wiederum trägt Kriegsbemalung. Es wird uns also ein indigener Abwehrkampf suggeriert – an anderer Stelle heißt es jedoch, dass die Mods Flüchtlinge aus dem Kirchenreich seien, was das Ganze letztlich zu einem importierten Konflikt machen würde.

Familienbande

Der eigentliche Kern ist für van Poelgeest aber ohnehin die Familiengeschichte, die uns in einer Reihe von Zeitsprüngen erschlossen wird. Der martialischen Triade von Großvater Axt, Mutter Tantoo und Enkelin Little Bird steht dabei eine andere Quasi-Familie gegenüber. Sie besteht aus dem mächtigen Bischof, der gewissermaßen als Faust der Kirche agiert und den zentralen Antagonisten der Geschichte abgibt, und dessen Ziehsohn Gabriel. Schon bald zeichnet sich ab, dass Little Bird und Gabriel als Pendants aufgebaut werden und früher oder später aufeinander treffen müssen.

Spannenderweise ist Gabriel übrigens trotz seiner Kirchenzugehörigkeit der friedfertige Teil dieses Paars. Little Bird mag man anfangs noch unterschätzen, wozu auch Bertrams Hang zu anatomischer Übertreibung seinen Teil beiträgt: Axt ist ein hypermuskulöser Hüne, und Tantoo sieht in ihrer Sehnigkeit nicht minder furchterregend aus – bei "The Walking Dead" könnte man nicht so leicht sagen, ob sie zum lebenden oder untoten Teil des Ensembles gehört. Neben diesen beiden Kampfmaschinen wirkt Little Bird harmlos (und winzig!). Doch sobald sie zu sich selbst und zu ihrer Mission gefunden hat, fegt sie durch die Reihen ihrer Gegner wie Hit-Girl in "Kick-Ass".

Foto: Cross Cult

Opulenz im Großformat

Ein Besuch in einem Gefängnis für genmodifizierte Lebewesen bietet zwar Platz für ein paar versteckte Gags, alles in allem wird in "Little Bird" aber auf humorvolle Auflockerung weitgehend verzichtet. Stattdessen wechseln sich blutige Actionsequenzen im Hochtempo mit kontemplativen Passagen ab – unter anderem einem surrealen Trip, als Little Bird in einem Zustand zwischen Leben und Tod schwebt und eine Vision erlebt. Van Poelgeest muss es besonders genossen haben, dass ihm das Medium Comic mit seiner flexiblen Panelgestaltung viel effektivere Möglichkeiten gibt, grenzüberschreitende Wahrnehmungen zu verbildlichen, als sein eigentliches Metier, der Film.

Im imposanten Format von 32 x 23 Zentimeter bietet "Little Bird" damit ein vor allem optisch berauschendes Erlebnis – kein Wunder, dass es heuer mit einem Eisner Award ausgezeichnet wurde!