Das Allernötigste darf weiter eingekauft werden. In Shoppingcentern haben daher etliche Händler weiter geöffnet. Die Zahl ihrer Kunden wächst stetig.

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Wien – Es ist der Dorfplatz der Stadtbewohner: Ein Shoppingcenter am Wiener Stadtrand nahe der Donau. In Zeiten des unbegrenzten Einkaufens glühen Jugendliche nach Feierabend vor seinen Toren vor. Kinder spielen zwischen Markständen Fangen. Pensionisten treffen sich auf einen Plausch. Pendler und Angestellte aus den umliegenden Büros schlängeln sich an Familien vorbei, die Vorräte ins Wochenende schleppen.

"Hier sollte eigentlich die Hölle los sein", seufzt ein Obstverkäufer auf dem Vorplatz. Er schält gedankenverloren eine Mandarine nach der anderen und lässt keinen Zweifel daran, dass er das Getümmel, das durch den zweiten Lockdown jäh unterbrochen wurde, vermisst. Auf den Großteil seiner Waren ist er diese Woche sitzen geblieben. Künftig wird er weniger Holzbuden aufbauen und einen Teil seiner Angestellten stempeln schicken.

Alkoholdunst verzog sich

Der Fleischhändler nebenan hingegen merkt von Flaute nichts. "Nur ältere Stammkunden machen einen Bogen um mich, wenn sich ein paar Leute anstellen. Dafür nehmen sie später ein paar Schnitzerl mehr mit", ruft er über die Vitrine und versucht, das Rauschen der nahen U-Bahn zu übertönen. Ein Standler, der unter ihren Trassen bis vor kurzem noch Punsch zum Mitnehmen anpries, sperrte zu. Der alkoholgeschwängerte Menschenauflauf vor seiner Hütte löste sich in Luft auf.

Knapp eine Woche ist es her, seit Österreichs Handel notgedrungen auf die Stopptaste drückte. Eingekauft werden darf seither nur noch das Allernötigste. Schlangen an Kunden bilden sich keine mehr. Dennoch sind viele Menschen an diesem späten Freitagnachmittag in die Einkaufshallen gekommen, um zu bleiben. Eine Gruppe junger Männer, in warme Jacken gepackt, kickt leere Bierdosen über den Vorplatz. Frauen stecken flüsternd ihre Köpfe über Handys zusammen. Der Wind treibt einem nicht nur den Rauch von Zigaretten in die Nase.

Fernsehen, essen, trinken

Teenager jagen sich an hell erleuchteten Plastikchristbäumen und runtergelassenen Gittern vorbei ins Innere des Gebäudes. Später beginnen zwei Burschen im Untergeschoß zum Gaudium ihrer Kumpels vor laufenden Handykameras auf dem Boden zu rangeln.

Scheiße ist es daheim und fad, platzt es aus einem der Jugendlichen hervor, ehe er sich rasch die Schutzmaske übers Gesicht zieht. "Wir lassen uns doch nicht wie Tiere einsperren." Fernsehen, essen, trinken. Mehr spiele es zu Hause in Zeiten von Corona nicht. "Drehen wir die Musik auf, regen sich die Nachbarn auf." Die Gefahren des Virus hält er für aufgebauscht. Klar kenne er Leute, die sich ansteckten. Ärger als eine Grippe sei es aber nicht verlaufen, resümiert er fachmännisch und sucht die Zustimmung seiner Freunde.

Wenig Disziplin

Einen Stock darüber herrscht Resignation. "Viele haben es immer noch nicht kapiert, worum es geht, und biegen sich die Wahrheit zurecht. Vielleicht dient es der Psyche als Schutz", seufzt ein Einzelhändler. Sein Geschäft ist eines unter gut einem Dutzend, die weiter offen halten dürfen, sei es, weil sie Lebensmittel, Reformwaren, Tierfutter, Telekombedarf, Arzneimittel oder Brillen führen.

Zu viel Wirbel sei ihm draußen in den Gängen in den vergangenen Tagen gewesen, erzählt er und deutet durch die Glasfenster. Zu undiszipliniert seien viele Kunden, die in sein Geschäft drängten. Zu weich und schwammig wurden die Ausgangsbeschränkungen aus seiner Sicht formuliert. "Geht es so weiter, kommen wir um einen dritten Lockdown nicht herum."

Gut für die Seele

In losen Grüppchen ziehen Kunden Freitagabend durch das hell erleuchtete Einkaufscenter. Da und dort wird auf Bänken verweilt. Händler schieben Regale über den Flur. Das laute Rattern lässt zwei ältere, adrett gekleidete Damen zusammenzucken. Keine dudelnde Kaufhausmusik verschluckt ihr angeregtes Gespräch. Mit gesundem Abstand zueinander trinken die beiden Frauen Kaffee aus Bechern. Im Schein der Christbäume und Sterne zu sitzen tue halt der Seele gut, räumt die Gesprächigere unter ihnen ein. Sie selbst lebe allein, keine fünf Minuten von hier. "Seit Corona fällt mir die Decke auf den Kopf."

Wer streunt schon gern bei dieser Kälte draußen herum?, fügt sie entschuldigend hinzu. Hier sei es angenehm warm und stimmungsvoll, mit ein bisserl Glück treffe sie auf bekannte Gesichter. Unbekümmert einkaufen geht sie freilich schon lange nicht mehr. Und kommen im Radio die Nachrichten, dreht sie es auf Musik um. "Dennoch werde ich daheim langsam verrückt. Ich sag' es ehrlich: Ich bin froh, dass hier vieles noch offen hat."

"Sollten Schüler nicht lernen?"

Tote Hose war nur am ersten Tag nach dem Lockdown, erzählt der Mitarbeiter eines kleinen Shops hinter Plexiglasscheiben. Schon am zweiten Tag seien die Lichter in den Gängen wieder angegangen. Und die Zahl seiner Kunden habe sich verzehnfacht. "Ob das öffentliche Leben stillstehen soll oder nicht – ich habe das Gefühl, das ist vielen Leuten mittlerweile egal."

Große Gruppen an Jugendlichen zum Höhepunkt der Infektionswelle hier stundenlang herumlungern zu sehen, sei nicht gerade prickelnd, sagt er. "Die meisten sind Schüler. Sollten die nicht lernen?" Durch die verbliebenen offenen Geschäfte sieht er Kunden jeden Alters flanieren. "Unter einem kleinen Rundgang, bei dem man sich die Beine vertritt, verstehe ich was anderes."

Im März habe jeder noch Angst gehabt, erinnern sich Verkäuferinnen ums Eck. "Jetzt tun viele Leute, als ob nichts wäre. Vom Lockdown spüren sie wenig." (Verena Kainrath, 22.11.2020)