Bild nicht mehr verfügbar.

Dem Instinktmenschen Donald Trump fehlt das strategische Geschick, um sich wie andere autoritäre Herrscher gegen den Willen der Mehrheit an der Macht zu halten.

Foto: AP/Susan Walsh

Seit dem ersten Tag seiner Präsidentschaft gab es eine Kluft zwischen der Realität und Donald Trumps "alternativen Fakten". Aber noch nie war die Kluft so groß wie in den Wochen seit der Wahl am 3. November, die Joe Biden mit großem Vorsprung gewonnen hat.

Sämtliche Versuche des Weißen Hauses, das Wahlergebnis mithilfe der Gerichte umzudrehen, sind bisher gescheitert. Selbst konservative Richter reagierten empört auf die peinlichen Bemühungen von Trump-Anwalt Rudy Giuliani und anderen drittklassigen Juristen, sie ohne jeden Beleg von einem groß angelegten Wahlbetrug zu überzeugen.

Hypothetisches Szenario

Auch auf der politischen Front kommt das Trump-Team nicht weiter. In einem eher hypothetischen Szenario könnten republikanische Politiker in Bundesstaaten, die Biden knapp gewonnen hat, den Wählerwillen ignorieren und Trump-treue Wahlleute ernennen, die das Wahlergebnis noch umdrehen. Aber zu diesem radikalen antidemokratischen Schritt scheinen zu wenige bereit. Schon am Montag könnte sich durch die Bestätigung der Stimmenauszählung in Michigan und Pennsylvania dieses Fenster praktisch schließen. Und auch wenn die meisten prominenten Republikaner Bidens Sieg weiterhin nicht anerkennen, bröckelt allmählich der Widerstand gegen die Macht der Zahlen und Fakten.

Trump und seine Mitstreiter lassen sich davon nicht entmutigen. Der Präsident taucht kaum noch in der Öffentlichkeit auf, aber lässt in seinen Tweets keinen Zweifel daran, dass er die Wahl gewonnen hat und ihn bloß betrügerische Demokraten und die Lügenpresse um den Sieg bringen wollen.

Notorischer Hochstapler

Man könnte das als Verzweiflungsakt eines notorischen Hochstaplers abtun, der Niederlagen noch nie akzeptiert hat, aber diesmal gegen die Kraft der US-Verfassung chancenlos ist. Doch Trump verfolgt offenbar ein weiteres Ziel: Er will Biden verbrannte Erde hinterlassen, um ihm das Regieren möglichst schwer machen wird. Er verweigert dem Team der Demokraten jeden Zugang zu Informationen und gefährdet damit auch die Verbreitung einer Covid-19-Impfung im nächsten Jahr. Und sein Finanzminister hat der Notenbank Fed den Auftrag gegeben, trotz anhaltender Krise die wichtigsten Hilfsmaßnahmen für Unternehmen zu Jahresende auslaufen zu lassen. Dazu trägt auch der überstürzte Truppenabzug aus Afghanistan bei, der den US-Einfluss in der Welt weiter schwächen wird. Noch nie hat ein US-Präsident aus reiner Kränkung und Trotz seinem Land so bewusst Schaden zugefügt. Die Wochen bis zur Biden-Angelobung am 20. Jänner sind die gefährlichsten der gesamten Trump-Ära.

Stärkste Säule der US-Demokratie

Das größte Übel aber richtet Trump an, indem er die Mehrheit seiner Anhänger von seiner Wahlbetrugslüge überzeugt. Eine solche Stimmung kann Biden nicht durch Verordnungen umdrehen. Seit 225 Jahren ist der friedliche Machtwechsel zwischen rivalisierenden Parteien die stärkste Säule der US-Demokratie; sie wird nun von Trump und seinen ergebenen Parteigängern demoliert.

Dem Instinktmenschen Trump fehlt das strategische Geschick, um sich wie andere autoritäre Herrscher gegen den Willen der Mehrheit an der Macht zu halten. Und sein Einfluss auf den Wählerwillen bleibt auf eine – wenn auch bedeutende – Minderheit beschränkt. Aber in den Trümmern, die er hinterlässt, könnte bald ein anderer Populist aufsteigen, der wie etwa Wladimir Putin oder Viktor Orbán diesen Krieg gegen die liberale Demokratie gewinnt. (Eric Frey, 22.11.2020)