Ende Oktober performte Igor Levit bei einem Protest gegen die rechtspopulistische AfD in Potsdam.

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Es gibt zwei Zeitungsartikel über Igor Levit, die eine weite öffentliche Resonanz erfahren haben. Im Mai 2010 bezeichnete Eleonore Büning den damals 23-Jährigen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als "einen der großen Pianisten dieses Jahrhunderts". Eingangs kramte die Verfasserin des Artikels in ihren Erinnerungen an das Jahr 2004, als bei einem Klavierwettbewerb in Bad Kissingen "ein kleiner, runder Mensch" unglaublich gut Klavier spielte. "Dieses dicke Kind" – Büning sprach vom 17-jährigen Levit! – verfügte laut ihrer Einschätzung über "ein sehr schönes, weiches Legatospiel".

Mitte Oktober dieses Jahres erschien im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung ein Aufmacher, in dem Musikkritiker Helmut Mauró die These aufstellte, dass Igor Levit ein mittelmäßiger Pianist sei, der durch sein politisches Engagement als gegen rechts anschreibender "Twitter-Virtuose" eine Anerkennung gefunden habe, die allein durch seine pianistische Qualität nicht zu begründen sei. Anfang Oktober hatte Levit etwa vom deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen.

Mauró bekrittelte in seinem Vernichtungsschlag auch Levits Legato, das an jenes seines Altersgenossen Daniil Trifonov nicht heranreichen würde. Was lernt man daraus? Glauben Sie nie einem Musikkritiker!

Steile Karriere

In den zehn Jahren zwischen diesen beiden Artikeln machte Igor Levit tatsächlich die Karriere, die ihm in der FAZ prophezeit wurde. "Dieses dicke Kind" begann Sport zu treiben und nahm über 30 Kilo ab, es veröffentlichte CDs, die euphorisch besprochen wurden, und bespielte die großen Konzertpodien dieser Welt.

Parallel dazu erhob Levit auch in den Medien seine Stimme, positionierte sich in Interviews, in Talkshows und in den sozialen Medien unter anderem gegen den Rechtsruck. Twitter dient Levit dafür als Homebase, auf dem Kurznachrichtendienst hat der in Berlin lebende Künstler über 112.000 Follower.

Hier leistete sich Levit aber auch hart kritisierte Statements: AfD-Mitglieder seien "Menschen, die ihr Menschsein verwirkt haben", twitterte er 2015. Eine nachgeschobene Erklärung Levits überzeugte nicht alle. Levits Tweets seien "nicht immer gescheit und überlegt", formulierte es Feuilletonmitarbeiter Manuel Brug kürzlich in der Welt. Helmut Mauró wiederum hat in seinem Artikel über Levit das Netz pauschal als "diffuses Weltgericht" mit Hang zum "Sofa-Richtertum" bezeichnet, dessen Urteile unter anderem auf einer "Opferanspruchsideologie" beruhen würden. Viele empörte Leser meinten, darin eine unterschwellige Anspielung Maurós auf die jüdische Herkunft Levits zu erkennen.

Personenschutz am Klavier

Wie auch immer: Das Sich-Einbringen in den demokratischen Diskurs ist zum Cantus firmus im Leben des Pianisten geworden, der infolgedessen für manche Auftritte in Deutschland Personenschutz benötigt. Levit selbst wurde 1987 im russischen Gorki (heute: Nischni Nowgorod) geboren, 1995 übersiedelte die Familie nach Deutschland. "Meine Familie und ich waren auch in einem Flüchtlingskontingent", beschrieb Levit in einem Interview 2016 wohl einen Mitgrund für sein Engagement auf diesem Gebiet.

Als Teenager saugte der hochbegabte Sohn einer Klavierlehrerin neben der deutschen Sprache auch die amerikanische Popkultur auf, Hip-Hop erwies sich hierbei als prägend: "Vermutlich hat mir Eminem mehr geholfen, Beethoven zu verstehen, als Beethoven selbst", verriet Levit 2018 dem SZ-Magazin. Auch die politische Schlagkraft dieses Genres fasziniert ihn: "Was früher das politische Lied war, ist heute Hip-Hop." So wie vom rhythmisierten Sprechgesang zeigte sich Levit bald auch vom Jazz fasziniert: Neben Bill Evans verehrt er auch Fred Hersch und dessen pianistische "Kunst des Ausatmens", wie Levit 2019 zum STANDARD sagte.

Insgesamt sei sein Spiel in den letzten Jahren weniger körperlich geworden, erklärt der Pianist. In Wien konnte man in den letzten Jahren wiederholt einen Künstler erleben, der sich dem Spiel am Rande der Stille und des Stillstands, dem Musizieren im Diminutiv hingab. Igor Levit ist ohne Zweifel ein geistreicher, technisch ungemein versierter Gestalter. Doch mitunter vermisst man bei seinen kunstfertigen, zwischen Puppenstuben-Putzigkeit und Art brut aufgespannten Interpretationen die normalmenschliche Mitte.

Wieder Hauskonzerte

Beim ersten Lockdown hat Igor Levit seine Konzerttätigkeit spontan auf Twitter verlegt: Vom 12. März an streamte er an 52 Abenden Hauskonzerte für seine Follower. Seine neue CD Encounter (Sony) basiert auf Stücken, die Levit damals gespielt hat. Viele Menschen haben diese Zeit als eine Abwendung vom durchgetakteten Hochfrequenzalltag hin zu mehr Ruhe und Besinnung erlebt. Für den erneuten Rückzug im Herbst sind Levits Silberlinge eine ideale akustische Begleitung (Kurzrezension siehe unten).

Seit einer Woche gibt es aber auch auf Twitter ein Da capo, neben pointierten Aussagen zur Tagespolitik erfreut der Pianist seine Fans dort erneut mit klassischen Klängen aus seiner Berliner Wohnung. (Stefan Ender, 23.11.2020)