Bis zum nächsten EU-Gipfeltreffen am 10. und 11. Dezember laufen trotz der Corona-Krise die hektischen Bemühungen hinter den Kulissen darüber weiter, ob und wie die überwiegende Mehrheit der Mitgliedstaaten das von Polen und Ungarn eingelegte Veto gegen die Verabschiedung des EU-Budgets in der Höhe von 1,1 Billionen Euro sowie des Pandemie-Aufbaufonds über 750 Milliarden Euro umgehen kann. Die beiden rechtsnationalistischen illiberalen Regierungen lehnen es ab, dass die EU künftig Fördermilliarden aus Brüssel wegen Verstößen gegen rechtsstaatliche Grundsätze kürzen kann. Sie wollen erreichen, dass die Rechtsstaatlichkeitsklausel, die sie als unzulässigen Eingriff in nationale Angelegenheiten betrachten, fällt.

Polens starker Mann, Vizepremier Jarosław Kaczyński.
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Vor und nach ihrem Beitritt der Union haben alle postkommunistischen neuen Mitgliedsstaaten turbulente Zeiten erlebt. Doch erst seit dem Machtantritt der Orbán-Partei 2010 in Ungarn und dem Sieg der von Polens starken Mann, Vizepremier Jarosław Kaczyński, gelenkten PiS-Partei 2015 werden in beiden Ländern Medien und Justiz immer stärker gleichgeschaltet und die liberale Demokratie durch den Aufbau eines autoritären Staates ausgehöhlt. Zugleich sind die beiden Staaten mit Abstand die größten Netto-Empfänger von EU-Geldern. Laut einer Analyse von IHS Markit, einem Londoner Informations- und Datendienst, betragen die Transfers aus dem Corona-Fonds und dem regulären EU-Budget in den kommenden sieben Jahren in Ungarn 24,6 Prozent der Wirtschaftsleistung eines gesamten Jahres und in Polen 23,7 Prozent.

Kontrolle der Machtinstrumente

Es gab immer wieder Konflikte beider Regierungen mit dem EU-Parlament und den EU-Institutionen, aber weder Viktor Orbán noch Kaczyński ließen sich bisher durch verbale Anmahnungen aus Brüssel auf ihrem Weg zur totalen Kontrolle der Machtinstrumente und der Geldflüsse aufhalten. Haben sie diesmal mit ihrem Veto inmitten der Corona-Krise zu hoch gepokert? Es steht viel mehr auf dem Spiel als die Frage der Haushaltsfinanzierung. Es geht um solidarisches Handeln und um die Respektierung der gemeinsamen Werte der Europäischen Union. Wenn die Machthaber in Budapest und Warschau bei ihrem Veto bleiben und bereit sind, die für beide Länder so wichtigen Geldflüsse zu riskieren, könnten die anderen Mitgliedsstaaten das laufende Budget fortschreiben und die Aufteilung der Corona-Milliarden im Rahmen der in den EU-Verträgen vorgesehenen sogenannten verstärkten Zusammenarbeit in Einzelverhandlungen durchführen.

Das alles wäre mühsam und zeitraubend, aber technisch möglich. Zahlreiche bedeutende Persönlichkeiten der EU-Staaten haben sich in den letzten Tagen für die Durchsetzung des Rechtsstaatsmechanismus ausgesprochen.

Der Widerstand der ungarischen und polnischen Regierungen ist verständlich. Wenn die Vergabe von EU-Förderungen an das unabhängige Funktionieren der Staatsanwaltschaften und Gerichte geknüpft wird, gefährdet es die finanziellen Grundlagen der korrupten Herrschaftssysteme, übrigens auch in Bulgarien und Malta. "Am Ende werden wir uns einigen", sagte Orbán am Freitag. Ein gesichtswahrender fauler Kompromiss kann bei der EU trotz der aufgebauten Drohkulisse noch immer nicht ausgeschlossen werden. (Paul Lendvai, 24.11.2020)