
Viel Trubel auf der Prater-Hauptallee, den Wiesen und Spielplätzen: "Nun sind alle in Bewegung. Die Leute wollen ihren Stress reduzieren."
Die zwei Buben sind unzertrennlich. Sie schieben sich gegenseitig Mandarinenspalten in den Mund, beißen von derselben Schokokugel ab. Hängen gemeinsam auf der Schaukel, nehmen einander in den Schwitzkasten, kugeln umschlungen im Rindenmulch herum. "Er reitet auf mir, ich reite auf ihm", erklärt einer der beiden. "Wie soll man da Abstand halten?"
Das fragen sich an diesem Novembernachmittag im Türkenschanzpark nicht nur die über den Spielplatz fegenden Sechsjährigen, die seit dem Windelalter Freunde sind. Von Ausgangsbeschränkungen ist hier nichts zu merken. Der Hochnebel, Stimmungskiller des Wiener Herbsts, gewährt der Stadt eine Atempause, die Sonne lässt die letzten Blätter auf den Ästen grellgelb erstrahlen. Kolonnen von Spaziergängern zwingen Jogger zu Ausweichhaken, in der 30er-Zone vor den Toren holen sich mit Radarpistole bewaffnete Polizisten von motorisierten Ausflüglern ein Körberlgeld ab. Das Social Distancing der vier Beamten: vorbildlich.
Homeschooling und Park
Auf der anderen Seite des Zauns ist Abstandhalten eine Altersfrage. Die Eltern, die ihre Sprösslinge im Gewurl zwischen Schaukeln und Klettergerüsten im Auge zu behalten versuchen, lassen den imaginären Babyelefanten leben. Nur mehr Spuckdistanz halten die Teenager, die sich zum Körbewerfen anstellen oder die Köpfe über ihren Smartphones zusammenstecken. Die Kleinsten degradieren die Ein-Meter-Regel schließlich endgültig zur Utopie weltfremder Legisten.
"Wir haben es irgendwann aufgegeben", sagt eine Mutter, die ihre beiden Mädchen – zwei und sechs – gerade zum Aufbruch einsammelt. Im ersten Lockdown habe sie sogar der Kleinen eingebläut, anderen Kindern nicht zu nahe zu kommen: "Doch am Ende hat sie schon zu weinen begonnen, wenn sie auch nur das Wort ,Abstand‘ gehört hat."
Für die Ältere, derzeit im Homeschooling, sei ein Spielplatzverbot wie im Frühling die gleiche Quälerei. Die Tochter vermisse ihre Schulfreunde während der Woche so sehr, dass sie an den Wochenenden in den Parks schon fast forsch fremde Kinder als Spielkameraden rekrutiere, erzählt der Vater: "Wir sind da viel lockerer als noch im März. Damals haben wir die Kinder im Haus sogar gestaffelt in den Hof geschickt, damit sich niemand begegnet."
Trotz Corona geöffnet
Auch der Wiener Prater will sich den Lockdown nicht ansehen lassen. Auf der Hauptallee schlendern Paare, viele Menschen joggen, daneben versuchen Eltern ihre wild dahinradelnden Kinder im Zaum zu halten. Es ist jede Menge los, vor Imbissständen bilden sich Schlangen. Diejenigen, die sich schon mit Getränken versorgt haben, stehen in kleinen Grüppchen abseits und wärmen ihre Hände an ihrem Coffee to go. Ein Anbieter wirbt: "Trotz Corona-Panik täglich geöffnet. Mehlspeisen, Kaffee, Punsch."
Erst beim zweiten Blick fällt auf, dass das Gewusel einem System folgt: Gruppe um Gruppe hält zueinander Distanz – oder probiert es zumindest. Manche Pensionisten, die über die Allee flanieren, strecken die Arme wie Flügel von sich, damit ihnen ja kein Läufer zu nahe kommt. Nicht jeder Abstand, den die ins Plaudern vertieften Bürger einhalten, mag da einer peniblen Überprüfung standhalten. Im Großen und Ganzen scheinen die einzelnen Haushalte aber unter sich zu bleiben.
Nur beim Skatepark funktioniert das nicht so gut: Zwar betreiben weder die älteren Skateboarder noch die jüngeren Rollerfahrer Kontaktsport, während sie Rampen rauf- und runterfahren, aber die Fläche ist schlicht zu klein für all jene, die Auspowerbedarf haben. Ältere Jugendliche lassen den Jüngeren zwar hie und da den Vortritt, indem sie einen Schritt zurückweichen. Aber umso jünger die Kinder, umso eher ist der Abstand in der Hitze des Gefechts vergessen.
Ein paar Meter weiter auf der Jesuitenwiese sitzen zwei junge Männer auf einem Baumstumpf. Sie unterhalten sich über die Tücken des Datinglebens während des Lockdowns. "Wo soll ich mich denn mit ihr treffen? In einem Lokal geht ja jetzt schlecht. Und sie jetzt zu mir einladen kommt ja auch komisch rüber, oder?", beklagt der eine. "Ja, schon eher", pflichtet sein Freund ihm bei. "Warte besser, bis alles wieder aufsperrt!" Seufzen auf der anderen Seite.
Keine Eile
Im Süden Wiens, am Wienerberg, hat es ein anderer Städter mit dem Aufsperren nicht eilig. Er sei irgendwie sogar froh über den Lockdown, sagt ein junger Mann, eine Thermoskanne im Schoß, das Smartphone daneben: "Ich genieße es, allein zu sein – zumindest wenn ich es mir aussuche."
Auch hier herrscht rundum Trubel. Im Sekundentakt joggt, spaziert, walkt oder radelt jemand vorbei, dazwischen lagern dutzende Gruppen auf Picknickdecken oder auf dem Boden. Aus einer Musicbox schallt eine türkische Ballade, irgendwo aus der Ferne tönt Jazz, ein kleiner Terrier jagt unaufhörlich einem Ball hinterher.
Es sei heute mehr los als im Sommer, erzählt der Wahlwiener mit den spanischen Wurzeln, außerdem seien damals viel mehr Menschen gesessen, gelegen, hätten sich entspannt. "Nun sind alle in Bewegung", sagt er, "die Leute wollen ihren Stress reduzieren."
Doch das Areal am Wienerberg ist riesig. Abstand halten geht sich an diesem Wochenende hier ebenso locker aus wie ein gutes Stück weiter nördlich auf der Donauinsel. Schon von der Reichsbrücke sieht man zwar dichten Verkehr von Sportlerinnen und Sportlern aller Art. Aber von Zuständen wie in der sprichwörtlichen Sardinendose, wie sie der Insel im ersten Lockdown mitunter nachgesagt wurden, kann keine Rede sein.
Unter der Reichsbrücke stehen drei Fischer am Ufer der Neuen Donau und starren auf Angelschnüre, die bewegungslos im Wasser hängen. Ja, es seien auf der Insel schon mehr Menschen unterwegs als vor dem Lockdown, sagt ein Mann mit freundlichem, rundem Gesicht und einer Dose Schwechater in der Hand. Die Leute müssten raus, den Kopf freikriegen, weil das Ministerium sie einsperrt, meint sein Kollege und schimpft über die Kommunikation der Regierung, bei der sich niemand mehr auskenne. Auch viele Angler hätten besorgt gefragt, ob sie denn noch rausdürften, erzählt er. Seine Patentantwort: "Ihr dürft alles, solange ihr Abstand haltet."
Skeptische Blicke durch Scheiben
Jene, die das kontrollieren sollen, treten an diesem Wochenende offenbar dezenter auf als im ersten Lockdown im Frühjahr, als es so manch saftige Strafe setzte, die dann rechtlich nicht hielt. Vereinzelt lassen sich im Prater und auf der Donauinsel beim Lokalaugenschein des STANDARD Polizeistreifen blicken. Doch es bleibt bei skeptischen Blicken durch die Scheiben. Auch nachts kommt es zu Situationen, in denen die Polizei betont gelassen agiert. Ob denn die psychische oder körperliche Erholung jetzt tatsächlich noch notwendig sei, fragt etwa eine Polizistin bei einer Kontrolle mit Blick auf die Uhr. "Trefft euch lieber daheim, da sieht es wenigstens niemand", ergänzt der Kollege.
Jenes Grüppchen von vieren, das im nördlichen Eck des Türkenschanzparks hinter den mit kühnem Optimismus aufgebauten Christkindlmarktstandln dem kalten Hauch der hereinbrechenden Dämmerung trotzt, hat sich dennoch an einen kleinen Tisch gesetzt. Nein, sie lebten nicht alle im selben Haushalt, geben die Studenten zu, die hier Karten spielen und Sonnenblumenkerne knabbern: "Zücken Sie jetzt einen Polizeiausweis?"
Zäh fließe das Studentenleben so ganz ohne Uni-Besuche und Festln, berichten sie, schon am Morgen lasse Trägheit einen denken: "Oh Gott, wie kriege ich diesen Scheißtag rüber?" Doch sie seien ja ein Stück selber schuld, sagt ein Bursche, "vor dem Lockdown ist es im Park abgegangen, das war nicht Corona-konform". Und bei aller Jammerei: "Wir können unseren Spaß nachholen. Aber jetzt geht es um Menschenleben." (Gerald John, Vanessa Gaigg, Gabriele Scherndl, 24.11.2020)