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Auch in Istanbul ging die Polizei im Vorjahr gegen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Pride vor.

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Die Verhandlungstage am Gericht von Ankara fanden unter schwerem Polizeischutz statt.

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Melike Balkan und Özgür Gür hoffen auf einen Freispruch Anfang Dezember.

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Als die Polizei mit Tränengas, Pfefferspray und Gummigeschoßen gegen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Pride-Marsches in Ankara vorging, waren Melike Balkan und Özgür Gür doch überrascht. Die beiden damaligen Biologiestudenten hatten im Mai 2019 an dem Event für die Rechte der LGBT-Personen in der Türkei an der renommierten Middle East Technical University in der Hauptstadt teilgenommen. "Es war der neunte Pride-Marsch, und die vorhergegangenen acht waren alle friedlich verlaufen", erzählt Gür dem STANDARD am Telefon. Doch dieser wurde gewaltsam aufgelöst, Teilnehmer verhaftet – unter ihnen auch Balkan und Gür.

Denn die Uni-Leitung hatte das Event eigentlich untersagt. In Ankara herrschte ein offizieller Bann von LGBT-Veranstaltungen seit dem Jahr 2017 – auf Anweisung des Gouverneursbüros. Doch im April, also kurz vor dem Pride-Marsch, hob ein Gericht das Verbot auf. "Deshalb dachten wir, dass wir wie jedes Jahr das Event veranstalten können", sagt Balkan. "Doch die Uniführung sah das anders und bat schon im Vorfeld die Polizei, vor Ort zu sein."

Hoffnung auf Freispruch

Am 10. Dezember geht der Prozess gegen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in die vierte Runde. Wegen "verbotener Versammlung" drohen den Studentinnen und Studenten sowie einem Akademiker Haftstrafen. Auch Amnesty International hat sich eingeschaltet und plädiert während des heurigen Briefmarathons unter anderem für den Freispruch der Angeklagten. Balkan und Gür rechnen beim nächsten Termin mit einem Urteil und zeigen sich hoffnungsvoll, dass es in ihrem Sinne ausfällt. Denn an den vergangenen Verhandlungstagen habe sich immer mehr herauskristallisiert, dass die Verhaftungen illegal waren.

"Wir hoffen in dem Fall, aber wissen auch, was tatsächlich passiert", sagt Balkan im Hinblick auf das toxische Klima gegenüber LGBT-Personen in der Türkei. Denn seit dem Putschversuch im Jahr 2016 üben Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine Regierung Druck auf soziale und politische Oppositionsgruppen aus. "Nicht nur LGBT-Personen sind davon betroffen, sondern etwa auch Umweltaktivisten", sagt Balkan. "Aber mit uns lässt sich am leichtesten die Gesellschaft spalten."

Attacken gegen LGBT-Personen

Zu Beginn der Corona-Pandemie warnte Ali Erbaş, der Präsident des türkischen Amtes für religiöse Angelegenheiten, im TV vor Homosexuellen, denn sie würden "Krankheit und Verfall" bringen. Gleichgeschlechtlicher und vorehelicher Sex seien außerdem an der Verbreitung des HI-Virus schuld. Erdoğan stimmt ihm später vollinhaltlich zu. In einem Bericht der türkischen Menschenrechtsorganisation SPoD heißt es, dass sich die Zahl der Anrufe bei der Hilfshotline der Organisation wegen physischer und verbaler Attacken gegen LGBT-Personen in den 45 Tagen nach der Ansprache verdoppelt habe.

Ankaras Rechtsanwaltskammer hat gegen Erbaş offiziell Beschwerde wegen homophober Äußerungen eingereicht. Im Mai eröffnete die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen die Kammer.

Hausdurchsuchungen

Mittlerweile haben Balkan und Gür ihr Studium abgeschlossen, doch ihr Engagement für Rechte von LGBT-Personen geht weiter – trotz Drucks der Behörden. Denn im Vorjahr wurden ihre Wohnungen wegen angeblicher Nähe zu einer terroristischen Organisation durchsucht. Die Vorwürfe stellten sich als falsch heraus, "unseren Abschluss verpassten wir trotzdem", erinnert sich Balkan. Und Gür erzählt, dass alle Teilnehmer des Pride-Marsches ihr Stipendium verloren hätten: "Die Polizei hat die Namen an das Ministerium weitergegeben", sagt er. Die beiden glauben nicht, dass es leichter für sie wird, selbst durch einen Freispruch. (Bianca Blei, 2.12.2020)