Gerd Arntz’ Varianten von männlichen Piktogrammen für Neuraths "Bildlexikon".

Foto: Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum Wien / Artur-Wolf-Verlag

Komplexe Sachverhalte lassen sich mit Grafiken oft leichter erklären als mit vielen Worten. Zudem hinterlassen sie belegtermaßen einen tieferen Eindruck als lange Textpassagen. Ohne Balken-, Säulen- oder Kreisdiagramme geht heute praktisch nichts mehr. Weder in der wissenschaftlichen und politischen Kommunikation noch in der Werbung, wo solche mit Seriosität assoziierten Symbole zur Bekräftigung von Kaufargumenten eingesetzt werden.

Dabei führt die Entstehungsgeschichte dieser modernen Bildsprache zu einer außergewöhnlichen Persönlichkeit im Roten Wien der Zwischenkriegszeit, deren Ziel nichts Geringeres war als die Demokratisierung des Wissens und damit die Stärkung der Demokratie selbst.

Mitte der 1920er-Jahre entwickelte der Philosoph und Ökonom Otto Neurath mit seinem Team die "Wiener Methode der Bildstatistik", mit deren Hilfe das ehrgeizige Vorhaben umgesetzt werden sollte.

"Neuraths Ausgangspunkt war die große soziale Ungleichheit der Menschen, die sich auch im Bildungssystem niedergeschlagen hat", sagt der Politikwissenschafter und Neurath-Biograf Günther Sandner. "Die Bildstatistik sollte die Unterschiede im Bildungsniveau ausgleichen, indem sie der Arbeiterschaft Einblicke in soziale und ökonomische Zusammenhänge ermöglicht."

In seinem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Forschungsprojekt beschäftigt sich Sandner mit der Entstehung und Entwicklung von Neuraths bahnbrechender Methode der Bildstatistik und ähnlichen Ansätzen in unterschiedlichen Kulturen und politischen Kontexten.

Otto Neurath war eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des Roten Wien.
Foto: Noord-Hollands Archieef / Vienna Circle Archive

Selbsterklärende Symbole

Ein wesentliches Merkmal der Wiener Methode ist der Einsatz von Piktogrammen. "Anders als abstrakte Symbole wie Balken, Pfeile oder Kreise erklären sich diese Bilder selbst", erläutert der Wissenschafter.

Berühmt geworden ist etwa das Symbol für Arbeitslosigkeit: ein leicht gebeugter Mann mit Kappe und den Händen in der Hosentasche. Um die Verbindung von Säuglingssterblichkeit und sozialer Lage möglichst eindrücklich darzustellen, wurden als Bildsymbole stark reduzierte Darstellungen von Menschen und Särgen verwendet.

Alle eingesetzten Piktogramme mussten, so Neuraths Vorgabe, in Größe und Gestaltung immer unverändert bleiben. So sollte eine gestiegene Arbeitslosenrate nicht einfach durch ein größeres Männchen dargestellt werden, sondern durch die entsprechende Zahl des immer gleichen Piktogramms. Wie viele Arbeitslose eine Figur repräsentiert, sollte durch einen kurzen Text erläutert werden.

Als Otto Neurath die "Wiener Methode der Bildstatistik" entwickelte, war er Direktor des Wiener Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums. Für diese Volksbildungsinstitution wurden damals in Zusammenarbeit von Wissenschaftern, Grafikern (damals "Transformatoren" genannt) und Künstlern zahlreiche Ausstellungen und Bücher mit aufklärerischem Anspruch konzipiert. Auch Neuraths Bildstatistik ist das Ergebnis intensiver Kooperation unterschiedlicher Disziplinen.

Flucht ins Exil

Die höchst produktive und kreative Teamarbeit fand nach der Zerstörung der Demokratie 1933/34 sowie der Zerschlagung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung ein jähes Ende. Neurath und ein Teil seines Teams flohen in die Niederlande, wo sie die Wiener Methode internationalisierten und in "Isotype" (International System of Typographic Picture Education) umbenannten.

1940 ging es weiter nach Großbritannien, wo vor Kriegsende eine gewisse politische Aufbruchsstimmung herrschte und damit auch das Interesse an seiner innovativen Bildsprache größer war.

Bereits 1942 konnte er dort das Isotype Institute in Oxford gründen. Der Dokumentarfilmer Paul Rotha produzierte mit Neuraths Institut eine Reihe kritischer Filme etwa über die Bekämpfung des Hungers in der Welt oder über die Wohnungsnot in Großbritannien. Isotype lieferte dazu die "visuellen Argumente", die Piktogramme lernten laufen. Otto Neurath starb im Dezember 1945 im englischen Exil.

Bildstatistik zu Säuglingssterblichkeit in verschiedenen Bezirken Wiens von 1929.
Foto: Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum Wien / Artur-Wolf-Verlag

Seine Methode der Bildstatistik aber lebte zumindest einige Jahrzehnte weiter. Am Isotype Institute etwa, wo Neuraths Ehefrau und Mitarbeiterin Mariedie bildpädagogische Arbeit bis zu Beginn der 1970er-Jahre ganz im Sinne ihres Gatten fortsetzte. So wurden dort im Zuge der Dekolonisation beispielsweise Isotype-Wahlaufrufe und Gesundheitskampagnen für einige westafrikanische Länder konzipiert.

Der Grafiker Gerd Arntz, der 1940 in Den Haag geblieben war, arbeitete in den Niederlanden mit der bildstatistischen Methode weiter, und in den USA nutzte Neuraths ehemaliger Mitarbeiter und späterer Rivale Rudolf Modley das Isotype-Erbe als Basis für eine steile Karriere als Informationsdesigner. Im nach 1945 wiedereröffneten Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in Wien wird die Erinnerung an die einst so wirkmächtige Bildsprache gepflegt.

Wildwuchs der Bildzeichen

Aber welche praktische Bedeutung kann Isotype im Computerzeitalter noch haben, wo sich jeder seine eigenen Grafiken am PC basteln kann? "Inzwischen fühlt sich kaum jemand mehr dieser Methode verpflichtet", sagt Sandner. "Heute arbeitet man weltweit mit einer Fülle unterschiedlichster Symbole für ein und dieselbe Sache."

Versuche, ein global verständliches Standardset an Symbolen zu etablieren, habe es aber immer wieder gegeben. Etwa von Charles Bliss, der mit seinem Symbolsystem eine kultur- und sprachunabhängige Kommunikation ermöglichen wollte. Seine Hoffnungen auf eine breite Anwendung des "Bliss-Systems" erfüllten sich aber nie.

Universalsprache

Ein Schicksal, das neben den universellen Bildsprachen auch wortbasierte Kunstsprachen teilen. Wie viele Menschen sprechen etwa Esperanto? Die Schätzungen reichen von 100.000 bis zehn Millionen. Jedenfalls nicht genug, um dieser vor 100 Jahren entwickelten Universalsprache einen durchschlagenden Erfolg bescheinigen zu können.

Was aus den Visionen von weltweiter Kommunikation ohne Sprachbarrieren geworden ist, wurde vergangene Woche auch bei der Onlinetagung "Universalsprachen, Kunstsprachen, Plansprachen: Träume und Utopien von einer Welt ohne Übersetzung" des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK) in Kooperation mit dem Isotype-Projekt ausgelotet.

In seiner Keynote über die von Rudolf Modley und Margaret Mead geplante, letztlich aber gescheiterte "Weltsprache ohne Worte" namens Glyphs resümierte Sandner: "Für den Erfolg einer Universalsprache wären nicht nur engagierte und kreative Einzelkämpfer notwendig, sondern auch Organisationsmacht und unterstützende politische Strukturen – weltweit." (Doris Griesser, 30.11.2020)