Arbeiten von zu Hause und gleichzeitig die Kinder zu betreuen und keine Chance auf Rückzug zu haben ist für viele eine Herausforderung, für manche auch eine schwere Krise. Doch es gibt Auswege und externe Hilfe.

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Ferdinand Wolf ist klinischer Psychologe und Lehrtherapeut für Systemische Familientherapie und lebt im Burgenland.

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"Krisen in der Familie sind an und für sich normal", sagt Ferdinand Wolf, klinischer und Gesundheitspsychologe, Lehrtherapeut für Systemische Familientherapie, Supervisor und Coach. Das fange schon mit der Geburt eines Kindes und dem damit verbundenen "Eindringen" eines neuen Mitglieds in die Zweisamkeit einer Paarbeziehung an, "was eine völlige Neuorganisation des Zusammenlebens erfordert" und Fragen aufwirft wie: Wer steht in der Nacht auf und beruhigt das Kind?

Weitere Krisen werden folgen. "Dann geht es weiter mit den Trotzphasen des Kleinkinds, Geschwisterrivalitäten, Pubertätskrise, oder wenn sie/er im Rahmen einer Wirtschaftskrise wie jetzt durch die Pandemie keinen Lehrplatz bekommt oder diesen verliert", erklärt Wolf. Schließlich sei auch die Verpartnerung oder Eheschließung sehr oft mit Konflikten verbunden, wenn beispielsweise die Elterngeneration die Partnerin oder den Partner des eigenen Kindes ablehnt. Für Wolf sind Krisen daher ein "notwendiges und damit normales Element im menschlichen Lebenszyklus".

STANDARD: Warum sind solche Krisen wichtig?

Wolf: Weil dadurch die Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung vorangetrieben und die Fähigkeit mit Konflikten umzugehen, diese auszutragen und auch wenn möglich zu einem für alle Seiten positiven Abschluss zu bringen, erprobt und erlebt wird. Dadurch lernen wir einerseits unser Durchsetzungsvermögen zu erproben, aber auch mit vermeintlichen Niederlagen umzugehen und diese vielfältigen Erfahrungen mit all deren emotionalen Begleiterscheinungen hoffentlich produktiv auch ausserhalb des familiären Umfelds wie etwa im Berufsleben zu nutzen. Daher kann gesagt werden, dass Krisen in unserem Familienleben immanent sind und daher eigentlich nichts Unerwartetes sein können. Natürlich gibt es unterschiedliche Formen wie mit Krisen umgegangen wird, ob sie angenommen, verdrängt, unterdrückt oder in hysterischer Form ausagiert werden.

STANDARD: Nun kommt zu den normalen Krisen auch noch die Pandemie hinzu. Welche Auswirkungen hat das?

Wolf: In der momentanen Situation muss davon ausgegangen werden, dass alle Menschen, egal ob in der Stadt oder in ländlichen Gebieten, infolge der massiven Kontakteinschränkungen einer außerordentlichen Belastung ausgesetzt sind und daher andere Maßstäbe gelten als in der sogenannten "alten Normalität". Krisen können sowohl durch gehäuft jäh aufbrausendes als auch durch immer wieder beobachtbares zunehmendes Rückzugsverhalten ausgedrückt werden.

STANDARD: Gibt es Signale, an denen eine Familie frühzeitig erkennen kann, in eine weitere, eine neue Krise zu schlittern?

Wolf: Erkennbar wird eine Krise meist dadurch, dass gravierende Meinungsverschiedenheiten über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten werden, ohne dass eine merkbare Annäherung der Standpunkte spürbar wird. Das geht meist einher mit starken emotionalen Reaktionen, die vom Aktivierungsgrad mit zunehmender Dauer als immer intensiver und damit bedrohlicher erlebt werden.

STANDARD: Wie reagiert man da am besten darauf?

Wolf: Im Englischen gibt es dazu einen aus meiner Sicht sehr passenden Ausdruck, der da lautet: "Calm down and carry on!", was so viel bedeutet wie "Beruhige dich und mach in deinem Alltag weiter". Das bedeutet im engeren Sinn, dass, wenn die Emotionen hochkochen, es wichtig ist, sich selbst einmal zurückzunehmen, tief durchzuatmen. Man sollte den anderen oder die andere wenn möglich um eine kurze Pause im Konfliktgespräch bitten und dann entweder im Gespräch fortfahren oder aber es auf einen anderen Tag verschieben in der Hoffnung, dass zwischenzeitlich eine Entspannung möglich ist.

STANDARD: Was liegt da dahinter?

Wolf: Man kann das als "Musterunterbrechung" im Sinne der Erkenntnisse von Paul Watzlawick, Janet Beavin und Don Jackson in ihrem Standardwerk "Menschliche Kommunikation" bezeichnen, wenn man die eben erfolgte Konfliktkommunikation als Muster oder "Pattern" auffasst.

STANDARD: Warum ist es oft nicht gescheit, sofort das Gespräch zu suchen, wenn das persönliche Häferl gerade übergeht?

Wolf: Das hängt von der zwischen den Konfliktpartnern beherrschbaren und zwischen beiden etablierten Gesprächskultur ab. Im Grunde ist es oft so, dass eine Botschaft vom Gegenüber nicht so aufgenommen wird, wie es der Absender der Botschaft intendiert hat. Denken wir an das bekannte "War ja nicht so gemeint!". Das führt im einfachsten Fall zu einem Missverständnis, im gesteigerten Fall zu einer Kränkung, wie es der österreichische Psychiater Reinhard Haller formulieren würde.

STANDARD: Wie kann man solche Missverständnisse verhindern?

Wolf: Es ist beispielsweise möglich– falls man oder frau sich emotional dahingehend einkriegen kann –, mit dem folgenden Statement und der daran anschließenden Frage zu intervenieren: "Ich hab' das Gefühl, dass wir uns jetzt nicht einig werden beziehungsweise wir uns im Kreis drehen und nicht weiterkommen. Was denkst du, sollen wir jetzt darüber noch weiterreden, oder wäre es dir lieber, dass wir uns morgen, am Wochenende, nächsten Dienstag die Zeit nehmen, dieses Thema noch einmal zu besprechen?" So kann man abtesten, was in der gegebenen Situation am Sinnvollsten scheint, und gleichzeitig eine kooperative Vorgangsweise trotz emotionaler Anspannung wählen.

STANDARD: Was sollte man auf keinen Fall sagen?

Wolf: Auf keinen Fall sollten Beschimpfungen und weitere Vorwürfe an den anderen oder die andere getätigt und damit die Situation auf eine höhere Eskalationsstufe getrieben werden. Wichtig ist, die Situation zu beruhigen und die Emotionen nicht noch weiter anzuheizen. Das kann durch Satzeinleitungen gestaltet werden wie "Ich kann jetzt verstehen, dass dich meine Aussage verletzt hat" oder "Ich bemerke, dass wir uns in etwas hineingesteigert haben, was wir beide nicht wollten" oder "Es tut mir leid, dass es dazu gekommen ist".

STANDARD: Das heißt, man soll dem Konflikt nicht aus dem Weg gehen, sondern vielmehr die richtige Bühne dafür schaffen?

Wolf: Genau. Wenn ich merke, dass ich etwas als problematisch erlebe, dann sollte ich mein Gegenüber um ein Gespräch bitten, wobei der Zeitpunkt und das Umfeld so gestaltet sein sollten, dass es in einem von außen ungestörten Rahmen stattfinden kann.

STANDARD: Was kann ich machen, wenn ich merke, dass mir alles zu viel wird, weil mir der eigene Freiraum fehlt?

Wolf: Gerade in der momentanen Situation ist es wichtig, dass die Arbeiten in der Familie nicht nur an einer, meist der Frau und Mutter, die oft auch aus Angst vor dem Arbeitsplatzverlust, im Homeoffice ist, hängenbleibt, sondern wirklich aufgeteilt wird. Angesichts der aktuellen Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen mit all den Begleitmaßnahmen, wie der Schließungen der Gaststätten, Kulturveranstaltungen, ist es naheliegend, dass das Spannungspotenzial in den Familien hoch ist. Daher muss jede/r für sich vorsorgen und versuchen, sich in Absprache mit dem Gegenüber – der dann etwa die Kinder übernimmt – eine entsprechende Auszeit zu sichern und zu nehmen. Das kann ein Power Nap, eine Runde um den Häuserblock, eine Stunde Rückzug im Schlafzimmer, ein Spaziergang im Wald oder Park und ähnliches sein. So kann man für sich Distanz zur Stress erzeugenden Situation zu erzeugen.

STANDARD: Und wenn ich niemanden habe, dem ich die Kinder anvertrauen kann?

Wolf: Für eine alleinerziehende Person ist die aktuellen Situation am schwierigsten zu bewerkstelligen. Aber vielleicht gibt es auch da Möglichkeiten, für sich eine Auszeit herauszuschlagen, indem die Kinder auf etwas fokussiert werden, und wenn es nur "Okidoki" im Fernsehen für 15 Minuten ist. Es ist schwierig, jetzt, in dieser aktuell insgesamt angespannten Situation, aus der sicheren Distanz Ratschläge dafür zu geben, was auf keinen Fall gemacht werden sollte, weil prinzipiell jeder weiß, was für sich und die anderen passt und gut ist und was dem nicht entspricht. Ich denke, es ist allen bewusst, dass schreien und einander wechselseitig mit Vorwürfen eindecken wenig bewirkt, außer dass die Eskalation sich nur steigert und alle Familienmitglieder noch stärker belastet werden, als es ohnehin der Fall ist.

STANDARD: Wo bekomme ich Hilfe, wenn ich mich gar nicht mehr heraussehe? Und sollte ich wirklich so lange warten?

Wolf: Hilfe ist über alle entsprechenden Einrichtungen in Österreich wie 147 Rat auf Draht, Ö3-Kummernummer, Telefonseelsorge, die verschiedenen Berufsverbände von Psychologinnen und Psychologen sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die Frauenhelpline gegen Männergewalt, die Männerberatungsstellen und die Psychosozialen Dienste in den Bundesländern zu bekommen. Mittlerweile können auch Termine bei Psychologinnen und Psychologen sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten vereinbart und trotz Kontakteinschränkungen wahrgenommen werden. Falls erforderlich, können auch Sitzungen per Video durchgeführt werden. Den richtigen Zeitpunkt muss jede und jeder für sich selbst bestimmen. Prinzipiell kann man sich jederzeit an eine der oben genannten Einrichtungen wenden, wenn man glaubt, alleine nicht mehr adäquat mit der Situation umgehen zu können. Die Einrichtungen der Telefonseelsorge, von 147 Rat auf Draht und der Ö3-Kummernummer können auch anonym kontaktiert werden.

STANDARD: Manche versuchen ihre Probleme anders zu lösen – sie etwa in Alkohol zu ertränken. Ist das in der aktuellen Situation ein größeres Problem?

Wolf: Die Überkonsumation ist nicht nur jetzt ein Problem, sondern ist und war bei etwa 600.000 Östereicherinnen und Österreichern schon vor der Pandemie ein Thema. Sie kommt aber sicherlich jetzt noch stärker zum Tragen als in der vermeintlichen "alten Normalität". Es wird vor allem dann ein Problem, wenn die Abhängigkeit insofern manifest wird, als ohne den regelmäßigen Alkohol- oder auch Tablettenkonsum, der nicht zu vergessen ist, der Alltag nicht mehr bewältigbar erscheint. Ein weiteres Problem in diesem Zusammenhang ist auch der Rückzug in eine virtuelle Welt, sprich Internetkonsum, der durch die aktuell belastende Situation ebenfalls gefördert wird. Dieser Form der Abhängigkeit wird meines Erachtens noch immer zu wenig Bedeutung beigemessen, obwohl es schon mit Safer Internet eine Organisation gibt, die sich dieser Problematik bei Jugendlichen annimmt. Ich befürchte, dass mit der verstärkten Nutzung dieses Mediums im Rahmen der aktuellen Kontaktbeschränkungen eine Erweiterung dieses Problembereichs schleichend einhergeht und bei allem Nutzen durch Homeschooling und Homeoffice die Gefahr besteht, diese Problematik insgesamt zu übersehen.

STANDARD: Was mache ich, wenn es eskaliert und es zu häuslicher Gewalt kommt?

Wolf: Prinzipiell ist bei häuslicher Gewalt einzuschreiten. Das heißt, dass, sowohl wenn Kinder im Haus und diese und/oder die Mutter Ziel der Gewaltausübung sind, als auch, wenn es in kinderlosen Partnerschaften dazu kommt, eine Grenze überschritten wird. Was folgt, ist beispielsweise eine sogenannte Wegweisung des gewalttätigen Partners nach Anzeige und Einschreiten der Polizei. Bei Kindern ist im Sinne des sogenannten Kindeswohls von einer Gefährdung zu sprechen, die ein Einschreiten der Jugendhilfe – des vormaligen Jugendamts – zur Folge hat.

STANDARD: Anzeigen werden oft wieder zurückgezogen. Welche Gründe gibt es dafür?

Wolf: Es kann oft festgestellt werden, dass eine Anzeige vom Opfer im Nachhinein wieder zurückgezogen wird. Das passiert aus Angst vor den Folgewirkungen des brutalen Partners oder auch, so komisch das jetzt klingen mag, aus Liebe, die durch eine derartige Maßnahme für das Opfer, das ja am anderen noch immer hängt, gefährdet scheint. Für Frauen gibt es die sogenannten Frauenhäuser, in denen sie Schutz und Hilfe vor gewalttätigen Ehepartnern finden. Dementsprechend nutzen viele Frauen diese Einrichtungen, wenn sie Opfer von häuslicher Gewalt werden.

STANDARD: Ist dann eine Anzeige überhaupt die einzig richtige Handlung?

Wolf: Ob jemand handelt oder nicht, ist eben oft aus der Situation heraus zu entscheiden. Bei Kindesmisshandlung ist eigentlich prinzipiell Gefahr im Verzug, da Kinder sich in der Regel weniger wehren können als Erwachsene, was bedeutet, dass sofort zu handeln ist. Und Gewalt gegen Kinder ist im Jugendschutzgesetz geregelt und daher ein strafbares Delikt. Allerdings scheuen sich Eltern meist, einander in dieser Situation anzuzeigen. In der Regel wird daher von außerfamiliären Institutionen wie Kindergarten oder Schule bei eindeutigen Zeichen wie Schilderung des Kindes oder äußeren Verletzungen wie Hämatomen Anzeige bei der Jugendhilfe erstattet. In vielen Fällen ist allerdings auch der Täter oder seltener die Täterin im Augenblick einer erst- und oft einmaligen Gewaltausübung erschüttert über seine oder ihre Entgleisung und bereut in der unmittelbaren Situation die Tätlichkeit. Das kann dann für beide Beteiligten, wenn es sich um eine Auseinandersetzung zwischen zwei Erwachsenen oder einem Erwachsenen und einer oder einem Jugendlichen handelt, auch eine wichtige Erfahrung sein, die bei einer entsprechenden Aufarbeitung – ob mit oder ohne Außenstehende wie Psychologinnen oder Psychotherapeuten – die Beziehung durchaus reorganisieren und damit stabilisieren kann.

STANDARD: Wie kann so eine Aufarbeitung funktionieren?

Wolf: Im Rahmen einer derartigen Aufarbeitung kann zwischen den Beteiligten beispielsweise ein Signalsystem vereinbart werden, das eine derartige Eskalation im Ansatz erkennen lässt und diese durch das vereinbarte Setzen eines Zeichens unterbindet. In der momentanen Ausnahmesituation ist es allerdings schwierig, eine derartige Thematik mit entsprechenden Handlungsanweisungen zu versehen. Zum einen sind die Familien aufgrund des Lockdowns im wahrsten Sinne des Wortes auf sich selbst zurückgeworfen, und andere Instanzen haben derzeit praktisch keinen Einblick in die familiäre Situation. Andererseits war auch schon beim ersten Lockdown im Frühjahr eine sogenannte Blockwartmentalität mit einer deutlichen Tendenz zur Denunziation zu beobachten. Das bedeutet, dass, wenn es aufgrund einer akuten Stresssituation in einem häuslichen Rahmen laut wird, es auch zu überschießenden Reaktionen der nachbarschaftlichen Umwelt kommen und womöglich eine lautstarke Auseinandersetzung ohne körperliche Gewalt einen Polizeieinsatz zur Folge haben kann. Somit muss in der gegebenen Situation mehr denn je davon ausgegangen werden, dass es den jeweils unmittelbar Betroffenen obliegt, wie sie mit Gewalt in der Familie umgehen und ob sie von sich aus externe Instanzen einschalten oder nicht. (Guido Gluschitsch, 25.11.2020)