Vor hundert Jahren – am 10. Oktober 1920 – wurde das heute Südtirol genannte Gebiet des vormals österreichischen Kronlandes Tirol vom Königreich Italien annektiert. Diesem von den damaligen Zeitgenossen als tiefes Unrecht empfundenen Akt war der von den Siegermächten den Besiegten "diktierte" (wie es damals hieß) Friedensschluss von St. Germain (10. September 1919) vorausgegangen.

Von diesem Zeitpunkt an gab es ein Südtirolproblem

Die mehrheitlich deutsch- oder ladinischsprachige Bevölkerung des südlichen Tirol, zu dem in der Zeit der Habsburgermonarchie auch die mehrheitlich italienischsprachige Bevölkerung der Provinz Trient gezählt hatte, fand sich als italienische Region in einem Staat wieder, der angesichts seiner (relativen) nationalen Homogenität über wenig Erfahrung im Umgang mit Minderheiten verfügte. Zudem kam in diesem Italien im Oktober 1922 mit Benito Mussolini der Faschismus an die Macht, womit alle Ansätze zu einer Toleranzpolitik im Keim erstickt wurden.

Dadurch verhärteten sich die Fronten noch mehr: Einer radikalen Italianisierungspolitik – Verbot deutschsprachiger Namen, Schulen, Presseorgane, italienische Amts- und Gerichtssprache, Ansiedlung von Italienern aus dem Süden der Halbinsel als Arbeitskräfte für die rasante Industrialisierung – stand der kompromisslose Kampf für das "Deutschtum" Südtirols und die Aufhebung des "Unrechtsfriedens" gegenüber. Auch die Hoffnungen auf das nationalsozialistische Deutschland (insbesondere nach dem österreichischen "Anschluss" 1938) erfüllten sich nicht. Stattdessen einigten sich die beiden Diktatoren Hitler und Mussolini im September 1939 darauf, die Südtiroler vor die Wahl zu stellen: Sie hatten entweder nach Deutschland auszuwandern oder loyale italienische Staatsbürger zu werden.

Eine Marginalie der Weltgeschichte

Diese unmenschliche Entscheidung ("Option" genannt), bei der sich die überwiegende Mehrheit für Deutschland aussprach, auch wenn nur ein Bruchteil davon wirklich emigrierte, grub in Südtirol noch tiefere Gräben – diesmal auch noch zwischen die verschiedenen Gruppen der betroffenen Bevölkerung: die "Geher" und die "Dableiber". Und auch nach dem Zweiten Weltkrieg gab es kein "Zurück nach Österreich" mehr. Südtirol war auch jetzt – wie 1919 – nur eine Marginalie der Weltgeschichte.

Erster-Weltkrieg-Denkmal am Tre Cime in den Südtiroler Dolomiten.
Foto: APA/AFP/MARK RALSTON

Nun allerdings, nach den traumatischen Kriegsjahren, konnten zwischen dem – mittlerweile republikanischen – Italien und der "Schutzmacht" Österreich die Grundlagen für eine moderne Minderheitenpolitik geschaffen werden: Ein Erstes Autonomiestatut wurde 1948 verabschiedet. Ein schwieriger, zum Teil auch mit Gewalt erstrittener Weg um weiterreichende Autonomieregelungen folgte. Mit den "Paket" genannten Autonomiebestimmungen wurde 1969 ein weiterer Maßnahmenkatalog von Minderheitsrechten für die Bevölkerung Südtirols beschlossen, der 1972 in ein Zweites Autonomiestatut mündete. Damals erhielt Südtirol auch seinen alten Namen zurück. Es hatte in der Zwischenzeit Alto Adige-Tiroler Etschland geheißen. Aber es bedurfte weiterer 20 Jahre, ehe Italien und Österreich mit der sogenannten Streitbeilegungserklärung 1992 die Südtirolfrage vor der Uno für beendet erklärten.

Der Grenzraum ist in Wirklichkeit ein Begegnungsraum

Seither gilt Südtirol als Musterbeispiel für das gedeihliche Miteinander zweier (beziehungsweise einschließlich der Ladiner dreier) Volksgruppen. Doch wirklich bewältigt ist diese Vergangenheit – angesichts von immer wieder aufflammenden Streitigkeiten, etwa um die Doppelstaatsbürgerschaft – bis heute nicht. Mangelnde historische Kenntnisse verhindern häufig auf beiden Seiten einen verständnisvollen Blick auf den jeweils anderen.

Mein vor kurzem erschienenes Buch "Geschichte Südtirols" will diesem Mangel abhelfen, indem es die Geschichte dieses Raumes als die Geschichte jenes Grenzraums erzählt, der er von allem Anfang an gewesen ist: Räter, Römer, Bajuwaren, Slawen – es war immer ein buntes Völkergemisch, das diesen Raum besiedelte. Mit der nationalistischen Brille des 19. Jahrhunderts vor dem Kopf wurde viel Energie von den Historikern auf beiden Seiten darauf ver(sch)wendet, aufzuzeigen, dass Südtirol immer schon "deutsch" beziehungsweise "italienisch" gewesen und wo genau "die" Grenze zwischen der einen und der anderen Sprache und Kultur verlaufen sei.

Tatsächlich ist dieser historische Grenzraum aber seit jeher ein Begegnungsraum zwischen Nord und Süd gewesen, der Norden "Italiens" und der Süden "Deutschlands", so wie ihn unzählige Reisende erlebt haben. Gerade auch die gemischtsprachigen Dialekte, die bezeichnenderweise ebenso im West-Ost- wie im Nord-Süd-Verlauf erkennbar sind, können als Indiz dafür gelten, dass das Mit- und Nebeneinander jahrhundertelang möglich war, ehe die verderbliche Leitidee des 19. Jahrhunderts – der ein- und ausschließende Nationalismus – die Fronten zwischen Italienern und "Deutschen" so verhärtet hat, dass sie im Ersten Weltkrieg gewaltbereit aufeinandertrafen und dann (als dessen Ergebnis) zwangsweise wieder vereint worden sind. (Brigitte Mazohl, 27. 11. 2020)