Die angebliche Enterung.

Foto: Demiroren News Agency (DHA) / AFP

In der türkischen Öffentlichkeit hält die Aufregung über die Durchsuchung eines türkischen Frachters vor der libyschen Küste an. "Deutsche Piraterie", titelte die nationalistische Zeitung Sözcü am Dienstag und stellte eine Fotomontage der deutschen Kanzlerin Angela Merkel in Piratenkluft daneben.

Andere Zeitungen druckten Videoaufnahmen von der Brücke des Frachters, die zeigen, wie Matrosen des Schiffes mit den Händen über dem Kopf von schwerbewaffneten deutschen Soldaten abgeführt werden. "Illegal, inakzeptabel, ein Akt der Piraterie" sind die Formulierungen, mit denen türkische Politiker die Geschehnisse im Mittelmeer kommentieren, zuletzt Verteidigungsminister Hulusi Akar am Dienstagnachmittag als Reaktion auf seine deutsche Kollegin Annegret Kramp-Karrenbauer. Erstmals hat sich am Mittwoch auch Präsident Recep Tayyip Erdoğan selbst zu der Causa geäußert und eine "Belästigung" der Besatzung scharf kritisiert.

Deutsche Widerrede

Die deutsche Seite sieht dies vollkommen anders. Die Durchsuchung des Frachters sei eine Routineaktion im Rahmen der EU-Mission Irini zur Überwachung des Waffenembargos gegen Libyen gewesen, sagte Kramp-Karrenbauer am Montagabend im deutschen Fernsehen. Nachdem die Türkei als Flaggenstaat gegen die Durchsuchung Protest eingelegt hatte, sei diese von den deutschen Soldaten sofort abgebrochen worden.

Einig sind sich beide Seiten nur in einem Punkt: Es wurden keine Waffen gefunden. Nach deutschen Angaben hatte die Irini-Operationszentrale in Rom Hinweise bekommen, dass der Frachter möglicherweise Material an Bord habe, das gegen das Embargo verstößt, und deshalb die deutsche Fregatte Hamburg damit beauftragt, das Schiff zu stoppen und zu durchsuchen. Man habe die Türkei informiert, und nachdem von dort fünf Stunden lang keine Reaktion gekommen sei, hätten sich die Soldaten von einem Hubschrauber aus auf den Frachter abgeseilt und die Durchsuchung begonnen. Die Besatzung habe sich kooperativ verhalten. Nach dem Abbruch der Aktion seien die Soldaten bis zum Morgengrauen an Bord geblieben, bis die Lichtverhältnisse es erlaubt hätten, vom Hubschrauber wieder abgeholt zu werden.

"Mannschaft misshandelt"

In den türkischen Stellungnahmen klingt das so: Ohne Erlaubnis aus Ankara oder vom Kapitän des Schiffes seien schwerbewaffnete deutsche Soldaten auf dem Schiff eingedrungen, hätten die Mannschaft misshandelt und 16 Stunden lang alles durchsucht, nur um festzustellen, dass das Schiff tatsächlich lediglich humanitäre Hilfsgüter und Farbe geladen hatte, so wie es die Türkei von Anfang an mitgeteilt habe. Für zusätzliches Misstrauen in Ankara sorgte, dass der kommandierende Offizier in der Irini-Operationszentrale in Rom ein Grieche war, ergo das Ganze nichts als ein Revancheakt für die türkisch-griechischen Streitereien um Seegebiete gewesen sei.

Für die Türkei kommt der Zwischenfall zu einem ungünstigen Zeitpunkt, da Erdoğan gerade wieder einmal versucht, sich zumindest verbal dem Westen zuzuwenden. In einer Rede am Sonntag hatte er erstmals seit langem betont, dass die Türkei ein Teil Europas sei und nach wie vor Vollmitglied der EU werden wolle. Auch an den zukünftigen US-Präsident Jo Biden hatte Erdoğan dabei Signale zur Zusammenarbeit gesendet.

Doch statt eines "vertrauensvollen Dialogs", den Erdoğan angemahnt hatte, wird auf dem EU-Gipfel am 10. Dezember nun der Vorfall vor der libyschen Küste ein weiterer Punkt auf der langen Liste türkischer Verstöße sein, die die EU-Chefs diskutieren wollen, um anschließend zu entscheiden, ob neue Sanktionen gegen die Türkei verhängt werden.

Bislang hat vor allem Deutschland die Forderung Österreichs, Griechenlands, Zyperns und Frankreichs nach neuen Sanktionen abgeblockt. Das könnte sich beim Dezembertreffen nun ändern. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 25.11.2020)