Politischer Beobachter, Grandseigneur und Ex-Verfassungsrichter Adamovich meint, die Regierung lerne in der Covid-Krise dazu.

Foto: imago images/CHROMORANGE

Der Staat müsse auf die Eigenverantwortung seiner Bürgerinnen und Bürger setzen. Auch wenn dies derzeit nicht funktioniere, so Adamovich.

Foto: APA / HANS KLAUS TECHT

Ludwig Adamovich ist ein Mann mit Erfahrung. 18 Jahre lang war er Präsident des Verfassungsgerichtshofs, später leitete er die Evaluierungskommission zum Fall Kampusch, nun ist er Berater von Bundespräsident Alexander Van der Bellen in verfassungsrechtlichen Fragen.

Trotzdem fühlt auch er sich, als lebten wir alle in einer Zeit, die es so noch nie gab, in der wir uns Fragen stellen müssen, die wir uns bisher nicht zu stellen überlegt hätten.

"Der Mensch ist es einfach nicht gewöhnt, dass in seine Privatsphäre derartig massiv eingegriffen wird", sagt der 88-Jährige. "Das gab es zwar zu Kriegszeiten und zu Zeiten der Diktatur aus anderen Gründen. Doch das jetzt ist motiviert durch eine Pandemie, das gab es das letzte Mal 1920", sagt er mit Blick auf die Spanische Grippe.

Wichtige Entscheidungen

Freilich traf der Verfassungsgerichtshof schon in den letzten Jahrzehnten bahnbrechende Entscheidungen. Fragt man ihn, welche ihm besonders in Erinnerung blieben, spricht Adamovich etwa von der Fristenlösung. Und von der rituellen Schächtung, die der Verfassungsgerichtshof in seiner Amtszeit behandelte und für zulässig erklärte.

Er spricht allerdings nicht vom Ortstafelstreit, der ihm damals einen gehörigen Streit mit Jörg Haider einbrachte. Haiders Sager "Wenn einer schon Adamovich heißt, muss man sich zuerst einmal fragen, ob er eine aufrechte Aufenthaltsberechtigung hat" wurde noch Jahre später von Medien thematisiert.

Ein skandalöser Sager

Nun lagen und liegen zahlreiche Anträge zu den Corona-Maßnahmen auf dem Tisch des Verfassungsgerichtshofs. Das verwundert Adamovich nicht: "Jede Beschränkung provoziert geradezu, dass die Betroffenen sich dagegen wehren", sagt er. "Und wenn man sich die Verordnung anschaut, dann ist ziemlich klar, wo man da einen Angriffspunkt findet: überall dort, wo die Bewegungsfreiheit oder die Ausübung von Handel und Gewerbe beschränkt werden." Dennoch, und so schreibt er es auch in seinem Buch "Wo wir stehen", versucht das novellierte Corona-Gesetz der Kritik des Verfassungsgerichtshofs Rechnung zu tragen.

Bis die Höchstrichter all die Gesetze und Verordnungen überprüft hätten, sagte Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) einst in einem wahrscheinlich unbedachten Moment über die Corona-Maßnahmen, seien diese ohnehin längst wieder außer Kraft. Ein Fauxpas, der die Juristenwelt, aber auch viele darüber hinaus schockierte.

Und ein mildes Urteil

Der einst oberste Verfassungshüter sieht diese Aussage allerdings erstaunlich milde: "Ich gehe davon aus, dass in Wirklichkeit gemeint war, dass man glaube, es sei in Ordnung, was beschlossen wurde", meint Adamovich. Auch wenn der Sager des Bundeskanzlers "von der Intention her nicht sehr schön und nicht sehr ethisch" gewesen sei, wie er anmerkt.

Ob er in Sorge ist, dass es sich in der österreichischen Verordnungsgebung einbürgert, erst einmal zu erlassen und sich dann Gedanken über die Verfassungskonformität zu machen? Adamovich verneint. Denn immerhin sei ein Verfassungsgerichtshofsurteil auch dann nicht wirkungslos, wenn es erst nach Ablauf der Verordnung kommt. "Erstens kann der Verfassungsgerichtshof auch im Fall einer außer Kraft getretenen Verordnung ausdrücklich anordnen, dass die Bestimmung nicht mehr – das heißt, in noch offenen Verfahren – anzuwenden ist", sagt er, "und zweitens besteht das Konstrukt der Amtshaftung", und da könne ein Verfassungsgerichtshofsurteil entscheidend sein.

Wo es hakt

Adamovich regt an, nachdem schon einige Passagen der Covid-Verordnungen aufgehoben wurden, zumindest eine Teilamnestie bei den bereits rechtskräftig verhängten Corona-Strafen zu erlassen. Man müsste "in seriöser Weise darüber diskutieren", und zwar "nicht zu lang". Sonst könnten all jene Menschen nicht mehr davon profitieren, deren Verfahren bereits rechtskräftig abgeschlossen ist.

"Es ist nicht die Aufgabe eines demokratischen Staates, das Leben seiner Bürger bis ins letzte private Detail zu regeln. Daher muss sich ein Staat auf die Eigenverantwortung seiner Bürger verlassen", schreibt Adamovich in seinem kürzlich erschienenen Buch. Und doch, so sagt er im STANDARD-Gespräch, sei offensichtlich, dass die Sache mit der Eigenverantwortung gerade nicht funktioniere. "Dass es nicht nur um die eigene Situation geht, sondern auch um die möglicherweise angesteckter dritter Personen, das scheint sich in den Köpfen nicht ganz herumgesprochen zu haben", sagt er.

Feine Unterschiede

Muss der Schluss also lauten, dass der Staat sehr wohl bis ins kleinste Detail das Leben seiner Bürger regeln soll, wenn die Pandemie die Gesundheit bedroht? "Nur innerhalb gewisser Grenzen", sagt Adamovich und stellt klar: Natürlich könne man überziehen und zu strikt regeln. "Und das eine vom anderen zu unterscheiden ist nicht leicht." (Gabriele Scherndl, 30.11.2020)