Man ist dort daheim, wo man verstanden wird, schrieb Christian Morgenstern. Und das ist nicht selten das Gasthaus des Vertrauens.

Foto: Imago

Beim Corona-Abendspaziergang neulich die Vergewisserung: Doch, es ist noch da, das Lieblingslokal. Still ruht es im Dunkeln, aber es ist noch da. Schön. Die Sehnsucht nach einem Bier spaziert danach mit. Es kann ja so nicht mehr länger weitergehen. Die eigenen vier Wände rücken jeden Abend näher und näher, Netflix ist leergeschaut, und Musils Mann ohne Eigenschaften kann man schon bis Seite 500 auswendig. Rückwärts. Und dann hat die Nacht auch noch mit einem Mörderappetit weite Teile des Tages verschlungen.

Im Lockdown fehlt ja so einiges: die Unbeschwertheit. Reisen. Konzerte. Sogar der Besuch im seniorenaffinen Muskelbildungsinstitut. Aber das Weggehen, das geht einem ganz besonders ab. "Jugend ist Trunkenheit ohne Wein", schrieb der alte Goethe in sein "Schenkenbuch". Ab dem mittleren Alter vertraut man in Sachen Trunkenheit auf alkoholische Substanzen. Und wo konsumiert man die am besten? Unter Menschen, in einem Lokal. "Im Haus schmeckt einem der beste Trunk nicht", das wusste schon Johann Nepomuk Nestroy.

Man kann in einem Lokal, wie Alfred Polgar feststellte, allein sein – dies aber angenehmerweise in Gesellschaft. Noch schöner ist es aber, in einem Lokal jemanden zu treffen und mit ihm/ihr drei Bier zu trinken und dann noch ein Achtel Rot. Man ist woanders und doch ganz bei sich selbst – ist doch ein Lokal viel mehr, als es auf den ersten Blick den Anschein hat.

Ein Lokal ist eine Theaterbühne mitten im echten Leben. Man sieht dort zahllose Auftritte und Abgänge, sie können unauffällig oder polternd sein. Mal wird ein leises Kammerspiel gegeben, mal kann es zu Massenaufmärschen mit Überwältigungscharakter kommen. Neben Alltäglichem spielen sich große Szenen ab: Liebes- oder Eifersuchtsdramen, Tragödien oder Komödien. Man selber spielt auch mit, merkt es aber nicht. Nur der Applaus fehlt.

Zwischen drittem und viertem Bier

Ein Lokal kann eine Partnerschaftsbörse sein. Der Single scannt und erkennt potenzielle Kandidaten in Echtzeit, fokussiert sie kurz und verwirft sie wieder. Zweifel und Skepsis gegenüber einem Objekt der Begierde reduzieren sich mit dem steigenden Grad der Alkoholisierung, parallel dazu schwindet die Scheu vor einer Kontaktanbahnung. Zwischen dem dritten und vierten Bier scheint für eine kurze Zeit alles möglich. Danach wird es wieder mühsamer.

Ein Lokal kann zu einem Therapieraum werden, zu einem Beichtstuhl ohne Trennwände. Im freundschaftlichen Gespräch kann die berufliche Frustration du jour abgeladen oder eine sich anbahnende Existenzkrise besprochen werden. Der Freund, die Freundin weiß Rat oder auch nicht, das ist eigentlich nicht so wichtig. Ein offenes Ohr und ein offenes Herz werden zum Resonanzraum für die Probleme des Gegenübers. Das muss fürs Erste reichen, und das tut es auch.

Homogene Soziotope

Lokale sind oft homogene Soziotope und ermöglichen Einblicke in bislang kaum bekannte Gesellschaftsschichten. Man kann Kontakte mit Menschen knüpfen, die politisch deutlich links oder rechts von einem selbst verortet sind. Man kann sich mit Mitmenschen konfrontieren, deren Einkommen das eigene um ein Vielfaches übersteigt – oder auch weit darunter liegt.

Im Luxushotel kann man sich als Mittelklassemensch ein Glas Champagner gönnen und sich für eine halbe Stunde wie ein Spross einer Industriellendynastie fühlen. Im Bauchstichbeisl kann man Welten der unverblümten Körperlichkeit kennenlernen: Mal bekommt man dort nachts um zwei Uhr von einem unbekannten Sitznachbarn ungefragt Fickvideos auf dem Handy vorgeführt, mal wird man Zeuge eines spontanen Faustkampfs.

Aufgerüscherlt oder versifft

Ein Lokal ist ein Laufsteg. Man nimmt den neuen Style der Jüngeren wahr, rätselt darüber oder findet ihn toll. Man sieht und lernt, wie Menschen in Würde altern – oder auch nicht. Im Innenstadtdelikatessenrestaurant lüftet der Hietzinger Anwalt seinen Lodenmantel aus, im Szenelokal streicht der Hipster durch seinen Bart, in der Konditorei Aida führen ältere Damen zum Tortenverzehr Haube und Häkelhut aus. Jedem das Seine.

Wenn man die richtigen Lokale kennt, hört man da manchmal Musik, die einen euphorisiert, elektrisiert, umhaut. Hat man sich früher bei der Schankkraft nach Musiktitel und/oder Band erkundet, so informiert darüber heute faderweise eine App.

In einem fantastischen Lokal kann sogar komplett grottige Musik gut rüberkommen. Dann muss man dort natürlich auch sofort zwischen den Tischen tanzen, obwohl das fantastische Lokal eigentlich nur zum Trinken da ist.

Genießbar an der Ungenießbar

In einem Lokal bekommt man zum Getränk auch gratis eine neue Kurzzeitumgebung dazu, eine dreidimensionale Lektion in Sachen Interior Design in all seinen Facetten und Zeitsegmenten. Ambiente macht Atmosphäre, egal, ob versifft, spießig, smart, versnobt, trendy, abgefuckt oder aufgerüscherlt. Sag mir, wo du trinkst, und ich sage dir, wer du kurzfristig gern sein möchtest.

Nicht da ist man daheim, wo man seinen Wohnsitz hat, meinte Christian Morgenstern, sondern wo man verstanden wird. Und Konstantin Wecker stellte fest: Wer nicht genießt, wird ungenießbar.

Können wir bitte unsere temporären Heimstätten und Genussmittelpunkte wieder zurückhaben? Licht ins Dunkel! Liebe Gastro, hoffentlich darfst du bald wieder aufsperren. Du fehlst. Sehr.

Man ist dort daheim, wo man verstanden wird, schrieb Christian Morgenstern. Und das ist nicht selten das Gasthaus des Vertrauens. (Stefan Ender, 27.11.2020)