Eine Veranstaltung des Kulturhauses Brotfabrik in Wien-Favoriten: Möglichst breiten Schichten der Bevölkerung soll ein Angebot zum sozialen Austausch gemacht werden.

Blinklicht/Marco Büchl

Die genaue Herkunft des ostösterreichischen Worts Grätzel muss ein großes Gerätsel bleiben. Vom mittelhochdeutschen "Gereis" für Umkreis könne es herrühren, meint zumindest der Duden. Klären wird das zwar auch die neue rot-pinke Stadtregierung nicht, aber freudiger denn je bekennen sich SPÖ und Neos zu den kleinen Wohnvierteln in ihrem Koalitionspakt: "In Paris heißen sie Quartiers, in Berlin Kiez, in Madrid Zonas. Die Wienerinnen und Wiener sind stolz auf die vielen unterschiedlichen Grätzeln", heißt es in dem Papier.

Getreu dem linksalternativen Mantra "Small is beautiful" will die Stadtregierung also die kleinstrukturierte Nachbarschaft fördern, erneuern, vital und lebendig erhalten. Das soll aber nicht nur durch klassische Verschönerungsoffensiven wie Errichtung von Parks, Spielplätzen, Sitzbankerln und Trinkbrunnen passieren, es steht seit zwei Jahren und nunmehr verstärkt auch auf der kulturpolitischen Agenda.

"Wien wächst, insbesondere in den Stadterweiterungsgebieten und an den Rändern der Stadt. Dieser Dynamik muss auch seitens der Kultur entsprochen werden, sie soll für jeden erlebbar sein", sagt die im Amt bestätigte Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler zum STANDARD. In einer sich "polyzentrisch" entwickelnden Metropole könnten sich längst nicht mehr alle Einrichtungen, in denen Kunst und Kultur passiert, auf die inneren Bezirke konzentrieren. Man will hinaus in die großen Flächenbezirke, Menschen erreichen, die sonst nur wenig am Kulturleben teilhaben, und ja, man will auch näher an die großen Gemeindebauten heranrücken, deren politische Rückeroberung sich Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) vorgenommen hat.

Verhindern von Problemvierteln

Tatsächlich mag dabei aber weniger politisches Kalkül als das Verhindern der Entstehung von Problemvierteln im Vordergrund stehen. "Kunst und Kultur wirken immer auch identitätsstiftend, verbindend, integrationsfördernd", sagt Kaup-Hasler. Man wolle Projekte fördern, die mit Mitteln der Kunst neue soziale Räume schaffen und das gesellschaftliche Miteinander stärken. Insbesondere Kindern und Jugendlichen solle der frühe Zugang zu Kultur erleichtert werden.

Zu diesem Zweck setzt die Stadträtin auf zwei seit Jahren etablierte und zumeist übervoll besuchte Museumsquartier-Einrichtungen: das Zoom-Kindermuseum und das Jugendtheater Dschungel. Sie sollen in "Transdanubien", wie die Wiener ihre Bezirke nördlich der Donau nennen, Zweigstellen eröffnen. Gerade ökonomisch schwächere Familien will man damit erreichen.

Bezirksmuseen und Ankerzentren

Ein weiterer Baustein der kulturpolitischen Grätzelagenda ist die Erneuerung der 23 Wiener Bezirksmuseen. Vielerorts in die Jahre gekommen und vom ehrenamtlichen Engagement lokaler Betreiber abhängig, sollen sie nicht nur finanziell mit 800.000 Euro aufgestockt werden, sondern auch inhaltlich junge Unterstützung erfahren: Beim Projekt "Bezirksmuseen reloaded" unter der Schirmherrschaft des Wien-Museums, das selbst nach seiner Wiedereröffnung gratis zugänglich werden soll, wurden junge Kuratoren frisch von der Uni weg engagiert. Sie sollen sich in den Bezirksmuseen erste Sporen beim Realisieren von Ausstellungen und Veranstaltungen verdienen und frisches Know-how in die angestaubten Häuser bringen.

Als Dreh- und Angelpunkte der kulturellen Nahversorgung in den Randbezirken will die Stadt schließlich sogenannte Ankerzentren etablieren und ausbauen. Drei Standorte wurden vorerst auserkoren, eine Million Euro Förderung steht dafür bereit: das Kulturhaus Brotfabrik in Favoriten, wo schon jetzt ein Cluster unterschiedlichster Kultur-, Tech-, Bildungs- und Gastroeinrichtungen entstanden ist, wo es ein Lerncafé für Jugendliche, Community-Cooking und zahlreiche Workshops gibt; die ehemalige Sargfabrik in Liesing, die seit 2015 als F23 ein Veranstaltungsort für alles vom Hochkulturtheater über das Chorkonzert bis zum Flohmarkt geworden ist; und der Sandleitenhof in Ottakring – größter Gemeindebau aus der Zeit des Roten Wien, in dem 5000 Menschen leben.

Orte des sozialen Austauschs

In Letzterem soll die seit 20 Jahren etablierte Kulturinitiative Soho eine neue Zweigstelle einrichten. Rund 1500 Quadratmeter Leerstand – ein aufgelassenes Kino und ein früheres Museum – werden bis Ende des Jahres umgebaut und für Veranstaltungen nutzbar gemacht. Die Kunst könne zwar keine Sozialarbeit ersetzen, sagt Soho-Leiterin Ula Schneider, aber natürlich versuche man, sich der bestehenden Probleme, "Einsamkeit oder Alkoholismus, um nur zwei zu nennen", anzunehmen. Oft brauche es nur einen Ort des Sozialen, an dem sich die Menschen treffen und austauschen können. Wie sehr das einer Gesellschaft fehlen könne, so Schneider, sei nicht zuletzt durch die Pandemie offenkundig geworden. (Stefan Weiss, 26.11.2020)