Der Truthahn, das Festtagssymbol, über dem Eingang von Macy’s in New York.

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Anthony Fauci, Amerikas bekanntester Epidemiologe, geht mit gutem Beispiel voran: Mit seiner Frau und den drei erwachsenen Töchtern hat er sich darauf geeinigt, dass Thanksgiving diesmal um eine Nummer kleiner ausfällt. Das heißt, auf die opulente Familienfeier wird verzichtet. Die Töchter müssten sich in ein Flugzeug setzen, um ihre Eltern in Washington zu besuchen. Und da sie nicht riskieren wollen, die beiden anzustecken, nachdem sie sich auf dem Flughafen oder in der Maschine womöglich mit dem Coronavirus infiziert haben, bleibt es diesmal bei Grüßen aus der Ferne. Via Zoom.

Seit März ist Fauci, der 79 Jahre alte Direktor des Nationalen Instituts für Allergien und Infektionskrankheiten, nicht mehr wegzudenken aus den US-Medien. Er beherrscht die Kunst, komplizierte Sachverhalte so zu erklären, dass jeder sie versteht. Und er redet Tacheles, in klaren Sätzen, ganz ohne Wortgirlanden. Weshalb er gerade von Kritikern Donald Trumps, der ihn de facto aus der Corona-Taskforce des Weißen Hauses verbannte, gefeiert wird wie ein Rockstar.

"Heuer machen wir Pause"

Nun hat der Virologe in typischer Schnörkellosigkeit dazu aufgerufen, den populärsten Feiertag der USA ausnahmsweise auf Sparflamme zu begehen. "Voriges Jahr hatten wir ein tolles Thanksgiving. Nächstes Jahr freuen wir uns auf ein tolles Thanksgiving. Aber in diesem Jahr machen wir Pause."

Die Rede ist von dem Fest am letzten Donnerstag im November, bei dem man sich bei Truthahn, Süßkartoffeln, Kürbis und Preiselbeersoße versammelt – zumeist in größerer Runde mit Verwandten, inklusive des von Comedians so oft zitierten kauzigen Onkels. Das Schönste daran ist das Schlichte, der Verzicht auf Kommerz. Keine Kaufhauskette, die einem mit endloser Thanksgiving-Reklame auf die Nerven geht, keine Thanksgiving-Geschenke, sondern Essen, Football im Fernsehen und ansonsten: Ruhe.

Ideologische Kontroversen

Da alle Amerikaner, ob sie Christen, Juden, Muslime, Hindus oder Atheisten sind, Thanksgiving feiern, handelt es sich um eine Art inoffiziellen Nationalfeiertag. Und der steht 2020 sowohl im Zeichen der Pandemie als auch, zwangsläufig damit verbunden, im Zeichen ideologischer Kontroversen. Es ist nämlich keineswegs so, dass alle dem Beispiel Faucis folgen. Ein Jungrepublikaner namens Charlie Kirk, Gründer der Jugendorganisation Turning Point USA, legt sich demonstrativ dafür ins Zeug, das Fest so zu feiern wie immer. "Jeder Patriot sollte eine möglichst große Runde organisieren", sagt Kirk, der seine Abwehrhaltung inszeniert, als leiste er in einer Diktatur heroischen Widerstand. "Sollen sie uns doch alle bestrafen und einsperren."

Auf Staten Island, der konservativsten Insel der liberalen Metropole New York, betont der republikanische Stadtrat Joseph Borelli, dass er nicht mit zehn, sondern mit elf Leuten am Thanksgiving-Tisch sitzen wird. Diese Zahl, die Elf, hat etwas Rebellisches: Denn nach einem Erlass von Andrew Cuomo, Gouverneur des Bundesstaates New York, liegt die erlaubte Obergrenze bei zehn.

Appell an die Vernunft

Es ist jedoch eher unwahrscheinlich, dass Borelli deswegen Ärger bekommt. Die New Yorker Polizei lässt wissen, dass man nicht daran denke, an Wohnungstüren zu klingeln, um zu überprüfen, ob die Order des Gouverneurs befolgt werde. Vielmehr baue man auf den gesunden Menschenverstand.

Sechs von zehn Amerikanern, haben die Meinungsforscher des Marist College ermittelt, wollen sich beim Thanksgiving-Feiern zurückhalten – jedenfalls zahlenmäßig. Allerdings offenbart ein genauerer Blick den Riss, der auch in dieser Frage quer durchs Land geht. Während 74 Prozent der Demokraten die Selbstbeschränkung richtig finden, lehnen 61 Prozent der Republikaner sie ab.

Dann wäre da noch die Frage nach der Mobilität, die logischerweise auch nicht jeder so defensiv beantwortet wie Fauci. Die Seuchenschutzbehörde CDC hat ausdrücklich von Reisen abgeraten, zu den Eltern, den Großeltern, zu wem auch immer. Vor zwölf Monaten checkten 26 Millionen Menschen in den zehn Tagen rund um das Fest auf den Flughäfen zwischen New York und Los Angeles ein, während 48 Millionen im Auto auf Achse waren.

Verminderte Reisetätigkeit

Diesmal, schätzen Experten, dürfte die Zahl der Flugpassagiere höchstens halb so hoch ausfallen, während auf den Straßen allerdings Hochbetrieb herrschen dürfte. Letzteres treibt Fauci die Sorgenfalten auf die Stirn. "Wir sind in einer sehr, sehr schwierigen Lage", mahnt er mit Blick auf zwei Millionen bestätigte Neuinfektionen allein in den letzten zwei Wochen. Wer feiern wolle wie immer, möge sich lieber zuerst die Zahlen anschauen und dann, jeder für sich, eine persönliche Kosten-Nutzen-Rechnung erstellen. (Frank Herrmann aus Washington, 26.11.2020)