In Europa und in den USA rollt die zweite, teilweise schon die dritte Corona-Welle auf die Bevölkerung zu, als wäre das Virus nicht seit zehn Monaten bekannt und eine Vorbereitung unmöglich gewesen. Ein Land nach dem anderen verhängt derzeit den strengen Lockdown – nachdem die Zahlen in besorgniserregende Höhen schnellen und so die intensivmedizinischen Kapazitäten zu überfordern drohen. Dabei gibt es Länder, in denen seit Monaten eine funktionierende Strategie im Kampf gegen die Pandemie wirksam ist. Eine Auswahl.

VIETNAM

Im 95-Millionen-Einwohner-Land in Südostasien gab es Anfang November einen neuen Herbstrekord. Bei 26 Menschen war an nur einem Tag die Infektion mit dem Coronavirus nachgewiesen worden – ein Höchstwert seit Mitte August. Damals hatte das Land mit 40 Fällen seinen bisherigen Rekord eingefahren. Anders gesagt: Die Geschichte der Corona-Bekämpfung in Vietnam ist bisher ein Erfolg.

Das liegt zum einen an der schnellen Reaktion der Regierung. Schon im Jänner setzte sie ihren Pandemieplan in Kraft, bald darauf schloss sie die Grenzen zu China. Und bereits im Februar stellte sie mehrere Kleinstädte unter Quarantäne, als Arbeiter aus Wuhan dort Symptome zeigten. Doch "Grenzen zu" alleine hätte nicht gereicht: Immer wieder tauchten einzelne Fälle auf, dennoch verbreitete sich das Virus kaum.

Als mitentscheidend dafür wird die transparente Kommunikation der sonst so autoritären Regierung gesehen. Diese hat frühzeitig bei ihren Propagandaschmieden Plakate und Videospots in Auftrag gegeben, die Hygiene- und Verhaltenstipps gaben. Später half sie Bürgerinnen und Bürgern bei ihrem privaten Contact-Tracing. Wo die wenigen Neuerkrankten genau unterwegs waren, lässt sich in Vietnam zudem jeden Tag in Zeitungen nachlesen – wenn auch in anonymisierter Form. Wenn Menschen in Wohnhäusern infiziert sind, findet sich im Lift ein Zettel, der auf Ansteckungen in der Nachbarschaft hinweist. Und wer in Kontakt mit Infizierten war, erhält eine SMS. Umgekehrt gibt es auch Strafen: Wer ohne Maske angetroffen wird, muss mehrere Tagessätze Lohn abgeben.

Vor allem aber hat die Regierung ein ehrgeiziges Ziel ausgerufen, einen Punkt, wo man am Ende hinwill, der sich nicht darauf beschränkt, eine "Überforderung der Intensivkapazitäten" zu vermeiden. Das Virus, so heißt es in Vietnam seit Beginn der Pandemie, müsse im gesamten Land ausgerottet werden. Dass man lernen müsse, "mit dem Virus zu leben" – das hat man in Vietnam noch nicht gehört.

THAILAND

Auch das stark bereiste Tourismusland kann im Kampf gegen Covid-19 auf Erfolg verweisen. Und das trotz schlechter Voraussetzungen. Thailand war am 13. Jänner 2020 der erste Staat außerhalb Chinas, in dem eine Corona-Infektion diagnostiziert wurde. Bis März stiegen die Fallzahlen – Mitte des Monats war mit 188 infizierten Personen der Höchststand erreicht. Doch ab dann ging es fast nur noch nach unten. Mittlerweile bewegen sich die täglichen Neuinfektionen im einstelligen Bereich.

Bei der Eindämmung dürfte – wie auch in den südostasiatischen Nachbarländern – das milde Wetter geholfen haben. Eine alleinige Erklärung ist dies aber nicht. Beigetragen hat zu dem Erfolg wohl ein strenger Lockdown, den die Regierung im März und April verhängte. Verbunden war dieser mit einer Ausgangssperre in der Nacht. Beide Maßnahmen gingen mit Vorgehen gegen die Opposition und Verhaftungen einher. Und beide trafen die Wirtschaft, die durch den fehlenden Tourismus bereits geschwächt war, massiv. Doch auch seit dem weitgehenden Ende dieser Maßnahmen steigen die Fälle in dem Land kaum – und das, obwohl seit Wochen in Bangkok Demonstrationen gegen die Regierung stattfinden.

Wieso genau die Fallzahlen bisher so niedrig geblieben sind, ist nicht ganz klar. In Thailand selbst verweist man auf die lokale Kultur, in der es etwa nicht üblich sei, sich zur Begrüßung die Hand zu geben. Spekuliert wird aber auch darüber, dass es in Südostasien – auch in Laos und Kambodscha sind die Corona-Zahlen besonders niedrig – eine bestehende Kreuzimmunität durch ähnliche, aber für den Menschen weniger gefährliche Coronaviren geben könnte, die dort seit Jahren in Fledermäusen existieren. Gemeint ist damit, vereinfacht gesagt, dass das Immunsystem zwar nicht das Sars-CoV-2-Virus, aber ähnliche Coronaviren bereits kenne und daher schneller auf eine Infektion mit dem neuen Virus reagieren könne. Dazu würde eine Beobachtung aus Thailand passen: Die festgestellten Corona-Infektionen verlaufen dort zu über 90 Prozent asymptomatisch – ein deutlich höherer Wert als in anderen Staaten.

TAIWAN

Einen anderen Trumpf hat Taiwan zu bieten. Durch die Insellage ist es für die Regierung in Taipeh vergleichsweise leicht, die Grenzen zu schließen oder Einreisen streng zu kontrollieren. Und: Wegen der engen, aber wenig vertrauensvollen Beziehungen zu China war man in der Lage, schon frühzeitig zu reagieren – ohne dabei auf die Äußerungen aus Peking angewiesen zu sein. Die Gesundheitsbehörden aus Taiwan wurden bereits am 31. Dezember 2019 auf Debatten in Ärzte-Chatgruppen in Wuhan aufmerksam, in denen über eine neue Viruserkrankungen gesprochen wurde. Es war jene Chatgruppe, in der auch der später an Corona gestorbene Whistleblower Li Wenliang aktiv war.

Schon ab dem 1. Jänner kontrollierte das Land daher Einreisende aus Wuhan auf ihren Gesundheitszustand, und bis Mitte Februar – als man in Europa damit begann, manche Einreisende auf Fieber zu überprüfen – hatte Taiwan mehr als hundert verschiedene Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus beschlossen. Dazu zählten teilweise Einreisesperren, Gesetze zu strenger Quarantäne – die in der Regel in Hotels abzusitzen ist – und ihrer peniblen Überprüfung via Handy und durch Polizeibesuche sowie eine deutliche Steigerung der heimischen Produktion von Gesichtsmasken. Diese wurden später wöchentlich bei Apotheken an alle Haushalte verteilt.

Stützen konnte sich die Regierung dabei auf konkret vorbereitete Pandemiepläne, die man seit der Sars-Epidemie Anfang des Jahrhunderts in der Schublade hatte und die man dann immer wieder überarbeitete.

In Taiwan konnte aufgrund der niedrigen Corona-Zahlen Ende Oktober die Pride-Parade stattfinden.
Foto: imago images/ZUMA Wire/ Hsiuwen Liu

Mittlerweile läuft das Leben in Taiwan – wo es nie einen Lockdown gab – wieder in gewohnten Bahnen. Schulen und öffentliche Verkehrsmittel sind offen, Masken sind nicht mehr flächendeckend verpflichtend, werden aber zumeist dennoch getragen.

Die Erfolgsstrategie Taiwans blieb dennoch weitgehend unbeachtet – und das hat auch mit der politischen Lage zu tun. Die Volksrepublik China, die Taiwan als abtrünnige Provinz sieht, verhindert eine Mitsprache Taipehs in der WHO. Versuche taiwanischer Vertreter, die dort Beobachterstatus haben, ihre Erfahrungen weiterzugeben, blieben bisher meist vergeblich. Ebenso blieb eine Warnung vor der Pandemie ungehört. Diese hatte Taiwan der WHO schon am 31. Dezember übermittelt – kurz nachdem den dortigen Experten die Chats aus dem Krankenhaus in Wuhan aufgefallen waren.

SÜDKOREA

Von allen asiatischen Staaten, die Corona bisher in den Griff bekommen haben, ist Südkorea wohl jener, der vielen Ländern in Europa am ähnlichsten ist: große Mittelklasse, ähnliche Freizeitgewohnheiten, gutes Gesundheitssystem, wache Demokratie – und, nun im Winter, schlechtes Wetter. Aber anders als der Großteil Europas war Südkorea auch eines: nämlich vorbereitet. Erst im Herbst 2019 hatte man bei einer großen Übung auf Regierungsebene den Ausbruch einer Pandemie simuliert – und wusste daher im Februar, als das Virus auch in Seoul erstmals ausbrach, genau, was man tun sollte.

Teile der Gesellschaft herunterfahren, Masken zur Pflicht erklären, strenge und überwachte Quarantäne – und vor allem: viel testen. So bekam das Land den ersten großen Ausbruch, ausgehend von einer sektenartigen Freikirche in Daegu, schnell wieder unter Kontrolle. Und so reagierte die Regierung mehrfach seit Beginn der Pandemie. Denn es ist in Südkorea keinesfalls so wie in Taiwan oder in Südostasien, dass es keine Fälle gäbe – Corona ist in der Gesellschaft klar präsent. Anders als in Europa wird aber meist schnell und entschlossen reagiert und anschließend viel getestet.

So war nun auch wieder zuletzt, als das 50-Millionen-Einwohner-Land Ende November einen Höchstwert von 583 Fällen an einem Tag registrierte: Schulklassen dürfen nur noch halb besetzt sein, Kirchen nur noch zu 30 Prozent. Bars und Nachtclubs sind zu, und Konzerthallen müssen Hygienekonzepte vorlegen – dürfen aber vorerst offenhalten. Demonstrationen sind – sehr zum Missfallen der Opposition – auf 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer begrenzt.

Vor allem aber gibt es neue Kampagnen, um das Augenmerk auf die Verbreitungswege des Virus zu lenken: lautes Sprechen, Singen und Essen – also Tätigkeiten, bei denen besonders viele Aerosole freigesetzt werden. Sie sind, rät die Regierung dringend, in geschlossenen Räumen zu unterlassen.

FINNLAND

Wer in Europa nach Best-Practice Beispielen sucht, wird am ehesten in Finnland fündig. Derzeit hat das 5,5 Millionen Einwohner Land die niedrigsten Neuinfektionszahlen Europas. Aktuell gibt es rund 400 neue Fälle pro Tag. Das benachbarte Schweden verzeichnet bei doppelt so vielen Einwohnern zehnmal so viele Neuinfektionen.

Zwar registrieren die finnischen Gesundheitsbehörden momentan einen Anstieg der Neuinfektionen. Doch die vor allem betroffene Region um die Hauptstadt Helsinki reagierte schnell mit gezielten Gegenmaßnahmen: Seit Montag ist unter anderem die Teilnehmerzahl bei öffentlichen Veranstaltungen in Innenräumen auf maximal 20 Personen begrenzt. Bei privaten Veranstaltungen dürften nicht mehr als zehn Gäste anwesend sein. An weiterführenden Schulen und Arbeitsplätzen sowie für die siebenten bis neunten Schulklassen wird ein Mund-Nasen-Schutz empfohlen.

Finnland ist seit dem Zweiten Weltkrieg gut auf Krisen, auch Pandemien, vorbereitet. Im Frühjahr reagierte das Land früh mit dem Lockdown, Geschäfte hielten währenddessen aber offen. Dafür waren die Einreisebestimmungen damals schon sehr streng – und sind es bis heute. das Vertrauen der Bevölkerung in die Maßnahmen der Regierung ist hoch, unter anderem aufgrund klarer Kommunikation. Contact-Tracing funktioniert dort deutlich besser als in anderen Ländern. Dabei hilft auch die App "Corona Flash", die 2,5 Millionen Mal installiert wurde. Wegen des hohen Stands der Digitalisierung macht auch Homeoffice wenig Probleme.

IRLAND

Irland griff vor etwa einem Monat zu drastischen Maßnahmen, als die 14-Tage-Inzidenz in einzelnen Regionen auf mehr als 1.000 stieg. Wer kann, muss bis zum 1. Dezember zu Hause arbeiten. Geschäfte, die keine lebensnotwendigen Waren verkaufen, wurden geschlossen. Treffen mit anderen Haushalten sind bis auf wenige Ausnahmen untersagt. Schulen und Kindergärten bleiben aber geöffnet. Sport im Freien ist im Umkreis von fünf Kilometern erlaubt. Vergangene Woche zeigte der Lockdown Wirkung: Die EU-Ampel schaltete dort von Rot auf Gelb. Auch diese Woche ist Irland neben Finnland das einzige EU-Mitglied, das die Ampel mehrheitlich gelb einstuft.

Das eigene fünfstufige Ampelsystem im Land ist außerdem klar an Bedingungen geknüpft, je nachdem auf welcher Stufe man sich befindet. Alle können sich transparent informieren, welche Maßnahmen bei welchem Level in welchem Bereich durchgeführt werden.

AUSTRALIEN & NEUSEELAND

Die beiden größten Staaten Ozeaniens haben einen Vorteil: Sie sind Inseln. Aber sie haben auch schnell und streng reagiert. In Australien sind die Maßnahmen je nach Region unterschiedlich. Am schlimmsten betroffen war der Bundesstaat Victoria mit der Millionenmetropole Melbourne, wo es im Juli zu einer zweiten Welle kam. Es folgte ein viermonatiger strikter Lockdown. Seit dessen Ende vor vier Wochen wurden in dem 6,7-Millionen-Einwohner-Bundesstaat keine Neuinfektionen mehr verzeichnet.

Im Bundesstaat New South Wales mit der Stadt Sydney wurde das Virus hingegen durch viele Tests und Kontaktnachverfolgungen unter Kontrolle gebracht. Unter Auflagen sind dort auch wieder Veranstaltungen erlaubt. Zum Erfolg haben in Australien vor allem Grenzschließungen beigetragen – auch innerhalb des Landes. Und derzeit helfen wohl auch die warmen Temperaturen.

In Brisbane, der Hauptstadt von Queensland, fand vergangene Woche ein Rugby-Spiel vor rund 50.000 Fans statt.
Foto: EPA/DARREN ENGLAND

In Neuseeland hat die Regierung indes das eindeutige Ziel genannt, Corona auf der Insel auszurotten. Mit einem sehr früh angesetzten strengen Lockdown hatte sich das Land bereits im Juni erstmals für Corona-frei erklärt. Nach neuen Fällen in Auckland im August wurde in der Stadt schnell wieder ein vorübergehender Lockdown verhängt, bis sie im Oktober wieder zehn Tage keine Neuinfektionen meldete. Nach einer Neuinfektion Mitte November reagierte die Stadt gezielt mit Homeoffice und Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln.

In den vergangenen Wochen gab es immer wieder vereinzelt Fälle in Neuseeland, bis heute wurden aber insgesamt nur rund 2.000 Infektionen verzeichnet, 25 Menschen sind in Verbindung mit Covid-19 gestorben. Bei den derzeit rund 60 aktiven Fällen handelt es sich fast ausschließlich um Reiserückkehrer, die isoliert sind. Heute sind die knapp fünf Millionen Einwohnerinnen und Einwohner wieder zu einer relativen Normalität zurückgekehrt – selbst Großveranstaltungen ohne Maskenpflicht sind wieder erlaubt.

Und sonst?

Weitere Beispiele lassen sich auch in Afrika finden, etwa in Madagaskar und – verblüffenderweise – in Tansania, dessen autoritärer Präsident John Magufuli die Existenz des Coronavirus in seinem Land leugnet und auf Schutzmaßnahmen weitgehend verzichtet. Weil aber auch dort Krankenhäuser kaum überlastet sind, geht man davon aus, dass die privaten Schutzmaßnahmen der Menschen ausreichen, um Infektionen zu verhindern. Vielen afrikanischen Staaten hilft auch ihre junge Bevölkerung, ihre Erfahrung mit Epidemien und die geringe Verbreitung von Vorerkrankungen wie Diabetes und Fettleibigkeit.

In Südamerika schien Uruguay bis zuletzt auf einem guten Weg, auch wenn die Zahlen zuletzt leicht anstiegen. Als Grund wird die relativ dünne Besiedlung vermutet – und dass es, anders als sonst in Lateinamerika, kaum Slums und eine relativ gute Versorgungslage gibt. Man setzte dort aber auch auf Aufklärung und Distanz – und geht nun in einen unbeschwerten Sommer. (Manuel Escher, Noura Maan, 28.11.2020)