Ronya Othmann, "Die Sommer". Roman. 22,70 Euro / 288 Seiten. Carl-Hanser-Verlag, München 2020

Cover: Hanser

Spricht man mit Menschen, die in einer Kultur leben, aber auch Wurzeln in einer anderen haben, ist es gang und gäbe, dass, was als Bereicherung wahrgenommen werden könnte, sich wie eine Last anfühlt. Viele kommen sich zwischen Welten zerrissen vor, so als würden sie weder da noch dort hingehören.

Die junge Journalistin (Taz u. a.) und Schriftstellerin Ronya Othmann greift dieses Gefühl in ihrem Debütroman Die Sommer immer wieder auf, wenn sie ihre Protagonistin beim Erwachsenwerden begleitet. Jeden Sommer, wenn Leyla von ihrer deutschen Heimat München in die ihres Vaters reist, ein kleines Dorf im Nordosten Syriens, triezt sie besonders eine ihrer Cousinen damit, dass sie keine richtige Jesidin sei. Die deutschen Freunde Leylas wissen dagegen nicht, was das überhaupt sein soll.

Die Sommer ist fraglos in erster Linie eine Geschichte über Identität. Deren Implikationen beschäftigen Leyla so sehr, dass sie sich gegen Ende des Romans für eine ihrer zwei Welten entscheiden wird.

Fern von Klischees

Dass Leyla jesidische Kurdin ist, also zu einer Minderheit gehört, macht die Identitätsfrage noch einmal komplexer; gekonnt webt die Autorin die von Verfolgungen geprägte Geschichte der Jesiden ein, die sie minutiös recherchiert, sodass der Roman Die Sommer nicht nur von einer Familie erzählt, sondern stellvertretend für die Erfahrungen einer ganzen ethnischen Gruppe gelesen werden muss.

Othmann, die 2019 den Publikumspreis bei den Tagen der deutschen Literatur – vulgo Ingeborg-Bachmann-Preis – zugesprochen bekam, schreibt eine klare, schmucklose Prosa, die trotzdem zärtlich ist, ohne dabei gefühlig zu werden.

Auf die Tränendrüse drücken die Fakten bereits genug. Mit unglaublicher Liebe zum Detail und großem Respekt beschreibt Othmann die vielen Familienmitglieder mit all ihren witzigen Schrullen und unverarbeiteten Traumata, mit ihren nicht nur kulturell bedingten, völlig unterschiedlichen Vorstellungen davon, wie ein gutes Leben aussehen könnte. Es ist ein Buch über Individuen, fern von Klischees, ein Buch über Menschen, denen Unmenschliches widerfahren ist. (Amira Ben Saoud, 5.12.2020)