Mieko Kawakami, "Brüste und Eier". Aus dem Japanischen von Katja Busson. 24,70 Euro / 496 Seiten, Dumont, Köln 2020

Cover: Dumont-Verlag

Bücher sind Lebensmittel, das ist während des Lockdowns immer wieder zu lesen. Bücher können so vieles sein und bewirken: Sie sind unsere treuen Begleiter, wichtige Seelentröster und lebensnotwendiger Treibstoff für unser Denken. Deshalb haben 24 STANDARD-Redakteurinnen und -Redakteure ihre Lieblingsbücher aus dem Jahr 2020 für diesen Adventkalender zusammengetragen, den Art-Direktor Armin Karner für uns gestaltet hat. Diese Artikel sollen Sie bis Weihnachten begleiten und Inspiration sein – Bücher zu lesen, Bücher zu kaufen und vor allem Bücher zu verschenken. Einen schönen Advent wünschen Mia Eidlhuber, Stefan Gmünder, Thorben Pollerhof und Christoph Winder.

Natsuko Natsume war 13, als ihre Mutter an Krebs starb. Einige Jahre davor verlor sie ihren Vater. Eigentlich war er nie wirklich da. Irgendwann ging er zur Tür hinaus und kam nie wieder zurück. Später starb die Oma, bei der sie mit ihrer Schwester eine Zeitlang lebte, dann waren sie und Makiko allein.

Der Roman Brüste und Eier von Mieko Kawakami beginnt im Jahr 2008, die Schwestern sind erwachsen. Natsuko Natsume lebt in Tokio als mäßig erfolgreiche Schriftstellerin, ihre Familie besteht aus ihrer Schwester und deren pubertierender Tochter. Makiko arbeitet wie die Mutter früher als Hostess in einer etwas heruntergekommenen Bar in Osaka. Sie will sich unbedingt ihre Brüste vergrößern lassen, ihre Tochter hat Angst um sie, sie versteht sie einfach nicht.

Für die Frage nach dem Warum ist kein Platz zwischen all den Hochglanzbroschüren von Kliniken, die den Eingriff anbieten, sie wird verdrängt von logistischen und finanziellen Herausforderungen, die künstlichen Brüste so mit sich bringen. So technisch die Fragen nach dem Leben und Sollen von Frauen in Japan beginnen, so beeindruckend mühelos in die Tiefe nimmt uns die Autorin im Laufe ihres Romans mit.

Zwischen vielen Stühlen

Und so landen wir zwischen diesen vielen Stühlen, zwischen den Attitüden eines Hochtechnologielandes, strengen konservativen Normen und einer bis ins kleinste Detail gepflegten Kultur des respektvollen Umgangs, hinter dem ein Abgrund an geschlechterspezifischer Gewalt lauert.

Inmitten dieser Konstellation misstraut Natsuko Natsume ihrem stärker werdenden Kinderwunsch, der medizinisch ohne Ehemann und ohne Sex hinzubekommen ist, aber gesellschaftlich als Szenario gezeichnet wird, das Chaos in die Welt bringen würde.

In den Gesprächen, die Natsuko, nunmehr Ende 30, mit ihren Bekannten führt, zeigt sich, dass alle aus einem solchen Chaos kommen. Entweder hassen sie ihre Mütter oder wissen nichts von den Vätern, wuchsen mit Lügen auf und winzigen Portionen Liebe. Das lässt erahnen, dass wir im Vergleich zur bisherigen heiligen Familie nicht viel falsch machen können. In gewisser Weise ein sehr weihnachtlicher Roman. (Beate Hausbichler, 1.12.2020)