Die Übergriffe auf eine Zwölfjährige durch einen 23-Jährigen sollen laut Anklage in der Schnellbahn zwischen Wien-Mitte und dem Praterstern begonnen haben.

Foto: Matthias Cremer

Wien – Die Aussagen von Samim O. vor dem Schöffengericht unter Vorsitz von Andreas Böhm sind, vorsichtig ausgedrückt, widersprüchlich. Auf die Frage Böhms, ob er sich anklagekonform schuldig bekennt, am 17. Juli eine Zwölfjährige in der Wiener Schnellbahn, auf dem Bahnsteig und im Lift an den Brüsten begrapscht und zu küssen versucht zu haben und anschließend Widerstand gegen seine Festnahme verübt hat, lässt der 23-Jährige zunächst übersetzen: "Ich kann mich nicht mehr erinnern, ich weiß nicht, was ich getan habe. Ich habe nichts Falsches getan."

Mit der Erinnerung scheint der nach eigenen Angaben vor etwa sechs Jahren nach Österreich gekommene Afghane generell Schwierigkeiten zu haben. "Wie viele Vorstrafen haben Sie in Ihrer Zeit in Österreich angesammelt?", fragt ihn der Vorsitzende zu Beginn der Verhandlung. "Ja", lautet die Antwort. "Ich frage, wie viele?" – "Ich war drei oder vier Monate im Gefängnis."

Dreieinhalb Jahre Gefängnis in sechs Jahren Aufenthalt

Was nicht stimmt, denn das betrifft nur seine erste von insgesamt vier Vorstrafen, die teilbedingt gewesen ist. Zwischen 2015 und 2017 ist er insgesamt zu über vier Jahren Gefängnis verurteilt worden, dreieinhalb davon hat er im Gefängnis verbracht. Die Bandbreite der Delikte reicht von Erpressung, Nötigung, Raub über Hehlerei und Widerstand gegen die Staatsgewalt bis zu schwerer Körperverletzung.

Vor Böhm behauptet O. auch, Asyl bekommen zu haben, die Akten verraten anderes: Sein Antrag wurde negativ beschieden, er legte allerdings Berufung dagegen ein. Nun lebt er in einem Männerwohnheim und bekommt 170 Euro im Monat.

Da der Angeklagte von alkoholinduzierten Gedächtnislücken spricht, verliest der Vorsitzende O.s Aussage nach seiner Festnahme. Er habe an diesem Freitag im Juli bis Mittag geschlafen, danach habe er sich mit einem Freund bei einer Simmeringer U-Bahn-Station getroffen und sei zur Station Wien-Mitte gefahren. In einem dortigen Supermarkt kauften die beiden eine Flasche Wodka, die sie im nahen Stadtpark konsumierten. Nach seiner Festnahme wurden 1,32 Promille gemessen, für Böhm zu wenig, um einen "Zustand voller Berauschung" in Betracht zu ziehen.

Opfer "wollte, dass ich sie anfasse"

Im Juli bei der Polizei schilderte O. weiter, er sei gegen 17.15 Uhr mit seinem Freund in die S-Bahn von Wien-Mitte zum Praterstern gestiegen, drei Mädchen im Alter von 15 bis 17 Jahren hätten ihn im Zug angeschaut. Beim Aussteigen am Praterstern sagte eines der Mädchen etwas. "Ich bin sicher, dass das Mädchen wollte, dass ich sie anfasse", gab O. bei der Polizei an. Von seiner Festnahme in der Station sei er völlig überrascht gewesen, er habe sich aber "respektvoll" gegenüber den Beamten verhalten und keinen Widerstand geleistet. "Ich war betrunken, aber habe sonst nichts falsch gemacht", stellte er auch damals klar.

Die Zwölfjährige berichtete laut Staatsanwältin etwas völlig anderes. Die Zwölfjährige erzählte, sie sei mit ihrer Schwester und deren Freundin – 15 und 16 Jahre alt – im Zug gewesen, als O. herkam und die Gruppe zunächst anstänkerte. Dann soll er die Jüngste von hinten gepackt und am ganzen Körper betatscht und versucht haben, sie zu küssen. Begleitet angeblich von den Worten: "Du bist jetzt meine Frau, ich nehme dich mit mir nach Hause."

"Diese Dame war einfach nur ein Objekt"

Auch nach dem Aussteigen soll es auf dem Bahnsteig und im Aufzug zu weiteren Angriffen gekommen sein. Die sind auch auf Videos aus Überwachungskameras zu sehen, aufgrund technischer Probleme könne er die Dateien aber nicht im Saal abspielen, erklärt der Vorsitzende. Auch eine unabhängige Zeugin schildert dem Gericht, sie habe gesehen, wie O. eine junge Frau an den Haaren gezogen und versucht habe, sie zu begrapschen. "Mitten auf dem Bahnsteig, alle sind vorbeigegangen. Diese Dame war einfach nur ein Objekt für den jungen Mann", ist sie noch immer empört.

Die in die Festnahme involvierten vier Polizisten berichten von versuchten Schlägen, Tritten und Bissen des Angeklagten, denen sie aber ausweichen konnten. Eine Inspektorin verrät auch Überraschendes: O. scheint nämlich durchaus über einen deutschen Wortschatz zu verfügen. "Ich fick euch, ich bespuck euch, ich tret euch, ihr Arschlöcher", soll er den Beamten gedroht haben. "Er kann also schon ganz gut Deutsch?", fragt Böhm nach. "Ja, eigentlich schon", sagt die Polizistin. Von "respektvollem" Verhalten habe sie jedenfalls nichts bemerkt.

Weitere Überraschung für vorsitzenden Richter

Der Vormittag bietet für den Vorsitzenden noch eine weitere Überraschung: Der Freund des Angeklagten wird als Zeuge mit Handfesseln von zwei Justizwachebeamten vorgeführt. "Ich wusste nicht, dass Sie im Gefängnis sind. In Untersuchungshaft oder Strafhaft?", will er von dem 29 Jahre alten Afghanen wissen. Der Dolmetscher kann helfen: "Den habe ich auch übersetzt, er ist in Krems verurteilt worden."

Der Freund beteuert, nicht zu wissen, was in der Zugsgarnitur passiert sei. "In Wien-Mitte haben uns die Mädels zugerufen und sind uns nachgegangen", behauptet er. Im Waggon habe er mit seiner Schwester telefoniert, erst auf dem Bahnsteig habe es irgendeine Aufregung gegeben, er wisse aber nicht, warum. "Im Zug ist gar nichts passiert!", beteuert er.

Die Zeugenaussagen scheinen die Gedächtnisleistung von O. etwas reaktiviert zu haben. Plötzlich kann er nämlich doch zwei Dinge zu dem Vorfall sagen: "Das Mädchen hat geweint, und ich habe sie trösten wollen" sowie "Sie ist zu mir gekommen und hat mich umarmt".

Zeuginnen nicht erschienen

Da die Schwester der angesprochenen Zwölfjährigen und deren Freundin nicht erschienen sind, fragt Böhm den Angeklagten, ob er mit der Verlesung von ihren Aussagen bei der Polizei einverstanden ist. Nach mehrminütigen Beratungen mit seiner Verteidigerin Irene Pfeiffer lässt O. erklären, dass dem nicht so sei. Er will eine Vertagung, um die beiden Zeuginnen zu laden, und fordert, dass auch die Überwachungsvideos aufgeführt werden. Böhm erfüllt ihm diesen Wunsch und wird den Prozess am 15. Jänner fortsetzen. (Michael Möseneder, 27.11.2020)