In einer hierzulande (noch) zu wenig beachteten Entscheidung hat der Supreme Court der USA die Beschränkungen verworfen, die Andrew Cuomo, der Gouverneur des Staates New York, wegen Corona für katholische Kirchen und Synagogen in der Bronx und in Queens verfügt hatte.

Der Supreme Court hob die Verfügung mit 5:4 Stimmen auf, den Ausschlag gab die Stimme der von Donald Trump eingesetzten ultrakonservativen neuen Richterin Amy Coney Barrett. Damit ist festgelegt, dass die Ausübung religiöser Handlungen höher gewertet wird als die Sicherheit in einer Pandemie. Zumindest in den Vereinigten Staaten.

Protestierende der "Handmaids Brigade" vor dem Supreme Court in Washington DC.
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Wir haben es hier mit einem "politischen Christentum" zu tun, das sich in der Intention nicht sehr vom "politischen Islam" unterscheidet, den die Türkisen bei uns unter Strafrecht stellen wollen. Darüber hinaus gibt es auch in Europa eine Art Wiedergeburt eines ausdrücklichen "politischen Christentums", in Polen oder Ungarn. Auch H.-C. Strache wachelte einst mit einem riesigen Kreuz herum (obwohl die Wurzeln der FPÖ im antiklerikalen Deutschnationalismus und Nationalsozialismus liegen). Sebastian Kurz ließ sich von einem freikirchlichen Erweckungsprediger in einer berühmten Stadthallenshow segnen. In der türkisen ÖVP sind fundamentalistische Funktionäre im Hintergrund wirksam.

Damit keine Missverständnisse entstehen: Religionsausübung hat frei zu sein, und die Religionsgemeinschaften leisten oft Großartiges im spirituellen wie humanitären Bereich. Der Trend zu einer "politisierten Religiosität" ist aber nicht harmlos.

Dominante Religion

Die Virulenz eines politischen Islam ist heute zweifellos wesentlich größer als die anderer Religionsgemeinschaften (vielleicht mit Ausnahme des Hindu-Nationalismus im Indien des Premiers Narendra Modi). Der Islam hat sich immer als dominante Religion verstanden. Das war sehr lange auch beim Christentum so, aber beginnend mit der Aufklärung wurde die ursprünglich dominierende Stellung des Christentums stetig zurückgedrängt.

Der Islam ist in der Moderne schwer ins Hintertreffen geraten. Die entsprechenden Reformbewegungen, wie etwa die Muslimbrüder, zogen daraus den Schluss, die Muslime dürften ja nicht die geistige Freiheit der Moderne annehmen, sondern müssten im Gegenteil ihre wissenschaftlich-technologische Rückständigkeit durch eine strikte Rückkehr zur "religiösen Reinheit" der Vorfahren ausgleichen.

Religiosität ist Bestandteil der menschlichen Lebenswelt. Aber man darf nicht zulassen, dass Fanatiker und Obskurantisten die Herrschaft übernehmen, weder im europäischen Islam, noch in einem neuen politischen Katholizismus, den man mühsam zurückgedrängt hat. Die erzreaktionäre Amy Coney Barrett ist Mitglied einer katholischen Sekte namens "People of Praise", in der die Männer ausdrücklich als Oberhaupt der Familie gelten und die Frauen "Handmaids" sind ("Mägde", klingt nach Margaret Atwoods dystopischem Roman The Handmaids Tale, das Vorbild war allerdings eine andere Sekte).

In den USA wird Barrett nun versuchen, ihre reaktionären Überzeugungen zu Waffenbesitz, Einwanderung und vor allem Abtreibung durchzubringen. Dasselbe passiert ja in Polen und, abgeschwächt, in anderen europäischen Ländern. Sosehr man daher den politischen Islam oder eher einen fundamentalistischen, aggressiven Islamismus beobachten und auch eindämmen muss, so sehr ist darauf zu achten, dass aggressives, rückwärtsgewandtes politisches Christentum nicht wieder an die Macht kommt. (Hans Rauscher, 28.11.2020)