Im Lockdown kann es leicht passieren, dass man Sehnsucht nach Landschaft und dem freien Blick über Felder, Hügel oder Berge bekommt. Eine Zeitlang ist es lustig, rund um die Häuserblocks zu gehen, doch irgendwann ist es genug, und die Frage nach mehr Raum tut sich auf. Raum, um zu schauen und herumzugehen, uneingeschränkter Raum für den Überblick. Sie wohnen im obersten Stockwerk eines Hochhauses? Dann haben sie Glück und Aussicht. Andererseits sind die oberen Stockwerke weit entfernt von jener Ebene der Stadt, wo sich (normalerweise) das Leben abspielt, dem Gehsteig- und Straßenniveau. In den meisten Fällen liegen diese auf ein und derselben Ebene, im Erdgeschoss der Städte. Viel ist dort auch nicht los zur Zeit, aber das wird sich ja wieder ändern. 

Die Berge in Wien

Die Sehnsucht nach dem weiten Blick hat nichts mit einer Landschafts-Romantik zu tun, sondern mit dem simplen Wunsch nach offenem Raum. Die etymologische Herleitung erklärt es, Raum stammt vom althochdeutschen rūmi ab und meinte weit und geräumig. Und genau das ist es, was gerade fehlt, das Weite und Geräumige. Da tut es gut, sich ab und zu einen Überblick zu verschaffen. Also hinauf auf einen der Hügel und Berge der Stadt, und davon gibt es ja doch einige in Wien. Die meisten von ihnen heißen allerdings nur so (Laurenzerberg) und bieten kaum Überblick. Da müsste man schon auf die (fast) echten Wiener Berge wie Kahlen- oder Kalvarienberg. 

Stadtraum ist nie flach

Stadtraum bezeichnet meist den nicht bebauten Raum zwischen den Fassaden vertikaler Gebäude. Selten ist dieser Raum dreidimensional nutzbar und die meisten urbanen Funktionen beziehen sich auf die unterste, also die Erdgeschossebene. Das ist eigentlich unverständlich. Denn Raum ist immer dreidimensional und die Fläche zwischen Bebauungslinien im Plan sagt nichts über die Qualität von Stadtraum aus – außer die Gebäude wären winzig, also nur wenige Zentimeter hoch. Viele Städte und Stadtquartiere werden tatsächlich noch immer auf der Fläche entworfen, also durch Linien, die zwischen innen (privat) und außen (öffentlich) unterscheiden. Das Resultat sind eher langweilige Quartiere. 

Unendlich denkbarer Raum

Stadtnutzung und urbane Funktionen beschränken sich fast immer auf die unterste Ebene. Das heißt, es gibt viel ungenutzten Raum darüber und darunter, der ebenso zur Stadt gehört wie der durch Körper und fahrbare Objekte genutzte Straßen- und Gehsteigraum. Besitzen Sie ein Haus oder einen kleinen Garten? Dann gehören Ihnen der Raum darüber und darunter dazu, und zwar in uneingeschränkter Ausdehnung. Da wird die kleine Wiese mit Hecke rundum plötzlich riesengroß, den Keller dürften Sie (theoretisch) bis zum Erdmittelpunkt bauen und das Hochhaus könnte zum echten Wolkenkratzer werden. Das ist sehr theoretisch, denn auch wenn der Himmel gerade angenehm leer ist, gilt das Luftverkehrsgesetz. Flugzeuge dürfen „Ihren“ Luftraum kreuzen. Und in Ihrem Keller wiederum könnten U-Bahnen ihre Grabungskonzepte sehr schnell durchkreuzen.

Wird Wien Medellín? 

In Zukunft werden aber noch ganz andere Elemente Ihre vertikalen Erweiterungsutopien kreuzen. Die Neos, frisch in der Wiener Stadtregierung, wollen Seilbahnen bauen lassen für Wien. Seilbahnen als Verkehrsmittel in Städten sind eine feine Sache, wenn die Städte sehr groß, sehr hügelig, sehr ausgedehnt und voller problematischer Quartiere sind. Urbane Seilbahnen sind großartig, wenn sie solche Stadtviertel erschließen, die neben allen anderen fehlenden Infrastrukturen vor allem kein anderes öffentliches Verkehrssystem haben, das funktionieren würde. In Medellín etwa, der 2,5-Millionenstadt in Kolumbien, gelegen in einem Talbecken zwischen steil abfallenden Berghängen, machen die Seilbahnen sehr viel Sinn. Sie erschließen die ärmsten Viertel der Stadt. Deren Bewohnerinnen und Bewohner können nun morgens und abends schnell und sicher eine Strecke zur Arbeit zurücklegen, für die sie vorher Stunden brauchten. Die Seilbahn ist sehr günstig, und dennoch können sich viele die paar Pesos für ein Ticket nicht leisten. Aber dennoch hat sie viel bewirkt, und rund um die Stationen entstanden neue urbane Programme.

In Medellín macht die Seilbahn wegen des bewegten Geländes Sinn und in sozialer Hinsicht.
Foto: Roland Köb
Eine Seilbahn ist nicht nur Seil, sondern braucht hohe und dicke Stützen
Foto: Sabine Pollak

Eine Mini-Seilbahn für Porto

In Porto ging es hingegen eher schief mit der Seilbahn. Die Stadt ist sehr terrassiert und man überwindet im Gehen unzählige Treppen und steile Rampen, dazu kommen waghalsige Brücken, die die beiden Stadtteile dies- und jenseits des Douro überwinden. 2011 wurde ein Stück Seilbahn eröffnet, das entlang des Flussufers zwei Quartiere miteinander verbinden sollte. Die ursprünglich länger geplante Seilbahn wurde nur knapp 600  Meter lang, überwindet einen Höhenunterschied von gerade einmal 57 Metern und endet gleichsam im Nichts. Zudem sind die Tickets sehr teuer. Auch wenn die Stationen architektonisch einnehmend gestaltet sind, bleibt das Seilbähnchen für Bewohnerinnen und Bewohner unbrauchbar und selbst für Touristinnen und Touristen eine teure und zweifelhafte Attraktion.

Linz, Graz, Wien

Linz tüftelte schon an Seilbahnplänen, Graz überlegt noch, und nun kommt Wien an die Reihe. Was für die Grünen die autofreie Innenstadt war (guter Gedanke, schlecht transportiert), ist für die Neos die Seilbahn. Eine solche Seilbahn soll zukünftig Ottakring mit Hütteldorf (wieso gerade hier?) oder Stadlau mit dem Hauptbahnhof verbinden. Da empfehle ich eine Reise nach Medellín, sobald es wieder geht. Die Stadt ist insgesamt sehr sehenswert, hat sich von der Drogenmetropole zu einer modernen, bunten und sehr agilen Stadt entwickelt und hat tolle Konzepte realisiert wie eben die Seilbahnen. Jedoch – und das sieht man sehr gut in Medellín – schwebt eine Seilbahn ja nicht, sondern wird von Seilen geführt, die zwischen Masten laufen. Und diese Masten haben es in sich, egal ob aus Stahl oder Beton. Sie sind sehr hoch, benötigen ein sehr großes Fundament und sehr viel Leerraum um sich herum. Da könnte es sein, dass neben Ihrem kleinen Garten plötzlich ein Masten steht, der im Grundriss die Ausmaße Ihrer Wiese hat. Oder, auch nicht lustig: In dem unendlich erweiterbaren Luftraum über Ihrem Haus schweben nun Gondeln, die ein paar Privatstudierende von Ottakring nach Hütteldorf bringen sollen oder Leute vom Hauptbahnhof nach Stadlau.   

Auch Lissabon hat eine, ein verloren wirkendes Relikt von der Expo 98.
Foto: Roland Köb

Vielfalt ja, Seilbahn nein

Ich bin für ungewöhnliche urbane Konzepte immer zu haben, je vielfältiger die Stadt ist, desto besser. Aber Seilbahnen in Wien sind so unsinnig wie eine U-Bahn für Graz (die auch schon diskutiert wurde) oder eine Straßenbahn für Hallstatt. Weder gibt es Armenviertel in Wien, die mit jenen in Südamerika vergleichbar wären. Noch gibt es stundenlange Verkehrsstaus auf achtspurigen Stadtautobahnen wie etwa in LA. Anstelle des teuren Flops sollte die Stadt besser allen, die von einem Mindesteinkommen leben müssen, arbeitslos sind oder alleinerziehend und -verdienend, allen Studierenden und Lehrlingen und am besten überhaupt allen, die nicht Großverdiener sind, kostenfreie Jahrestickets für alle öffentlichen Verkehrsmittel in Wien überreichen. Das wäre eine weitblickende und nachhaltige Tat. Sie lässt sich halt nicht so gut visualisieren wie der Blick aus einer Gondel in Richtung Steinhofkirche.

Die maßgebliche Ebene einer Stadt ist die unterste Ebene. Ich bin sehr dafür, den Raum in allen Dimensionen zu nutzen. Also baut bitte Rampen und Treppen, Terrassen und Stadtloggien in luftigen Höhen. Gebt den Blick von oben frei für alle Stadtbenutzenden, ohne Doorman, der sie nicht raufläßt ohne Konsumation. Eine Seilbahn würde mehr Stadt zerstören als Urbanität erzeugen. Oder was wäre der Folgeplan, wenn die Seilbahn den Verkehr übernimmt? Ein Endlos-Park auf der Tangente? Mehr Schwimmbäder am Gürtel? Ein Dschungel am Meidlinger Platz? Was tun wir denn mit unserer Stadt auf ebener Erde, wenn alle in den Gondeln sitzen, da oben? (Sabine Pollak, 3.12.2020)    

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