Es passiert nicht alle Tage, dass die EU sich so weit in die Sackgasse manövriert. Die Lage ist durchaus ernst: Ungarn und Polen wollen partout nicht mitmachen bei der Verabschiedung des fast zwei Billionen Euro schweren Finanzpakets, bestehend aus dem EU-Budget für die Jahre 2021 bis 2027 und den Wiederaufbauhilfen für die Corona-gebeutelten Mitgliedsländer.

Hintergrund ist einmal mehr der Streit um die Rechtsstaatlichkeit. Beide Länder wollen verhindern, dass die Auszahlung von EU-Geldern künftig an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien geknüpft wird – ein Schritt, den eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedsstaaten bereits unterstützt. Also haben Budapest und Warschau ihre Veto-Möglichkeit sozusagen ausgelagert, und zwar in die Budgetentscheidung selbst, wo Einstimmigkeit erforderlich ist.

Es passiert nicht alle Tage, dass die EU sich so weit in die Sackgasse manövriert.
Foto: EPA/STEPHANIE LECOCQ

Das mag technisch klingen, illustriert aber den Kern des Problems. Wenn Fragen des Rechts in der EU immer wieder durch politische Mehrheiten entschieden werden, sorgt das selten für Klarheit. Natürlich haben die anderen Staaten und die Brüsseler Institutionen gerade jetzt gute Gründe, dafür zu sorgen, dass Milliardenhilfen aus dem Corona-Paket nicht in den Taschen von Politikern und ihren Günstlingen verschwinden. Doch so berechtigt das Auftreten gegen Korruption, Gängelung kritischer Medien oder Politisierung der Justiz ist: Auch Ungarn und Polen haben einen Punkt, wenn sie kritisieren, dass die Beurteilung der Rechtsstaatlichkeit politischen Gremien überlassen wird – genau wie in den seit Jahren laufenden Artikel-7-Verfahren gegen beide Länder, in denen ebenfalls Politiker über die Einhaltung von Recht befinden.

Corona-Hilfen

Doch die Regierungen in Budapest und Warschau sollten ihre sorgsam gehegte Gegnerschaft gegen "Brüssel" nicht zu weit treiben. Wenn sie die EU, deren Teil sie sind, auch jetzt wieder mit der Sowjetunion vergleichen, die ihre Länder einst bevormundet hat, dann beleidigen sie damit nicht nur die Partner in der Union – und übrigens ihre eigenen ehemaligen Dissidenten –, sondern verkennen auch die aktuelle Lage. Im Budgetstreit stehen sie nicht einer finsteren Macht von Bürokraten gegenüber, sondern den konkreten Interessen der anderen Mitgliedsstaaten: derer, die dringend auf Corona-Hilfen angewiesen sind, und derer, die ihr Geld nicht ohne Notbremse quer durch Europa schicken wollen.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat einen Ausweg aus der verfahrenen Lage angedeutet: Es stehe jedem frei, "vor den Europäischen Gerichtshof zu ziehen und die neuen Regeln auf Herz und Nieren prüfen zu lassen". Auf diese Art könnten Ungarn und Polen dem Budget zustimmen und trotzdem weiter gegen die Rechtsstaatsklausel zu Felde ziehen.

Allerdings stünde es dann auch Brüssel gut an, Streitigkeiten bevorzugt vor dem EuGH auszufechten statt in politischen Verfahren, die stets für böses Blut sorgen – und jene Populisten in Osteuropa stärken, die ihren Landsleuten sagen, man würde sie als Europäer zweiter Klasse behandeln. (Gerald Schubert, 28.11.2020)