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Nasiriya war – wie schon im vergangenen Jahr – wieder einer der Schauplätze der Proteste.

Foto: Reuters/AHMED DHAHI

Bagdad/Basra – Bei Zusammenstößen zwischen rivalisierenden regierungskritischen Demonstranten, darunter viele Anhänger des einflussreichen Schiitenführers Moktada al-Sadr, sind am Freitag im Süden des Irak mindestens vier Menschen erschossen worden. Mehr als 50 weitere Menschen wurden verletzt, wie die Nachrichtenagentur AFP aus Ärztekreisen erfuhr. Rund sieben Monate vor der geplanten Neuwahl des Parlaments haben sich die politischen und sozialen Spannungen in dem Land wieder verschärft.

Sadr konnte am Freitag weitaus mehr Anhänger mobilisieren als die rivalisierende Protestbewegung: Zehntausende Unterstützer des umstrittenen Schiitenführers folgten seinem Aufruf zum Protest und gingen in Bagdad sowie in den südirakischen Städten Nasiriya, Al-Hillah und Basra auf die Straße. Viele der Demonstranten waren in irakische Nationalflaggen gehüllt und skandierten Anti-Korruptionsparolen.

Vor allem junge Menschen

Auf dem Habbubi-Platz in Nasiriya griffen Sadr-Anhänger ein Camp der regierungskritischen Protestbewegung an, der vor allem junge Menschen angehören. Ein AFP-Reporter vor Ort berichtete von niedergebrannten Zelten und Chaos.

"Mit Gewehren und Pistolen bewaffnete Sadristen kamen, um unsere Zelte zu räumen", sagte der Protest-Anführer Mohammad al-Khayyat der Nachrichtenagentur AFP. "Wir fürchten, dass es noch mehr Gewalt geben könnte." Der ehemalige Sadr-Anhänger Asaad al-Naseri twitterte: "Den Sicherheitskräften ist es eindeutig nicht gelungen zu verhindern, dass bewaffnete Banden den Habbubi-Platz stürmen."

Zunächst hatten Ärzte drei Tote durch die Gewalt gemeldet, im Laufe des Abends korrigierten sie diese Zahl jedoch nach oben. Insgesamt seien 51 Menschen verletzt worden, neun davon durch Schüsse, hieß es.

Ausgangssperre in Nasariya

Als Reaktion auf die Gewalt verhängten die Behörden in Nasariya eine nächtliche Ausgangssperre. Der Polizeichef der Stadt wurde entlassen.

Nasariya gehörte im Herbst vergangenen Jahres zu den Städten, in denen die Protestbewegung im Irak ihren Ausgang nahm. Vor genau einem Jahr, am 28. November, waren am Rande von Protesten in der südirakischen Stadt mehr als drei Dutzend Menschen getötet worden – der blutigste Vorfall im Zusammenhang mit den regierungskritischen Demonstrationen. Die Todesfälle hatten landesweit Empörung ausgelöst und schließlich zum Rücktritt des damaligen Ministerpräsidenten Adel Abdel Mahdi geführt.

Der neue Regierungschef, Mustafa al-Kadhimi, ging auf die Protestbewegung zu und kündigte vorgezogene Neuwahlen im Juni kommenden Jahres an. Sie sollen auf der Grundlage eines neuen Wahlrechts stattfinden, das unter anderem die Verkleinerung von Wahlkreisen und die Einführung von Wahllisten vorsieht. Experten kritisieren jedoch, dass das neue System den Schiitenführer Sadr und ihm nahestehende Kandidaten begünstigen werde.

Sadr setzt auf Neuwahlen

Bereits bei der letzten Wahl im Mai 2019 hatten die Sadristen 54 der 329 Sitze im Parlament gewonnen – sie stellen seither die größte Fraktion. Diese Woche schrieb Sadr im Online-Dienst Twitter, er erwarte im Falle einer Neuwahl massive Zugewinne und wolle darauf hinwirken, dass der nächste Regierungschef ein Mitglied seiner Bewegung werde.

Der Irak befindet sich derzeit an der Schwelle zur schwersten Finanzkrise seiner Geschichte. Einbrüche beim Ölpreis sowie die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie haben unter anderem zu Verzögerungen bei der Auszahlung von Gehältern im öffentlichen Dienst geführt. Zugleich wird der Regierung von mehreren Seiten Korruption und Misswirtschaft vorgeworfen. (APA, 27.11.2020)