Auf den "Hygienedemos" gegen Corona-Maßnahmen tauchen neben normalen Bürgern auch Neonazis, Reichsbürger und andere radikale und gewaltbereite Gruppen auf.

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Sie werfen Brandsätze auf das Robert-Koch-Institut in Berlin, krachen absichtlich mit dem Auto in das deutsche Kanzleramt, planen die Zerstörung von Handymasten und versuchen in Zeitungsredaktionen einzudringen: Das Spektrum der "Querdenker"-Bewegung, die gegen Corona-Maßnahmen protestiert, sorgt seit Monaten für eine erhöhte Gefährdungslage. Verfassungsschützer und andere Sicherheitsexperten sind sich einig, dass sich hier binnen rascher Zeit eines der explosivsten Phänomene zusammengebraut hat.

Mehrere Aspekte erscheinen ihnen besonders gefährlich. Erstens ziehen die anfänglich "Hygienedemos" genannten Protestaktionen eine breite Schar von Menschen an: bislang nicht aktivistische Personen, Esoteriker, Reichsbürger und Vertreter des Neonazismus.

Traum von rechts außen

Für Letztgenannte war das Aktivieren einer "Querfront" schon immer der Traum. So fantasierte der Neonazi Michael Kühnen in den 1980ern von einer Allianz mit links außen. Wenn man das "Schweinesystem" beseitigt habe, "können wir immer noch untereinander ausschießen, welche Ordnung besser ist". Auf das "Angebot" gingen Linksextremisten nicht ein.

Zweitens sind aufgrund der massiven wirtschaftlichen und psychischen Belastung durch die Pandemie und ihre Bekämpfung viele Menschen für Verschwörungstheorien und Radikalisierung anfällig. Drittens ist zu bemerken, dass innerhalb der Szene eine enorm rasche Radikalisierung stattfindet.

Die Bewegung nutzt die vorhandene Polarisierung in der Gesellschaft und zielt dezidiert auf jene Menschen, die den Umgang der Politik mit der Corona-Pandemie kritisieren. Radikale Mitglieder versuchen, Veranstaltungen gegen Schulschließungen zu kapern und dort Anwesende zu rekrutieren. Dadurch schaffen sie es, legitime Kritik oder Proteste zu vereinnahmen. Viele Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen melden Rechtsextreme selbst an. Dabei ist festzuhalten, dass der Verfassungsgerichtshof ganz sicher kein Teil der Querdenker-Bewegung ist, obwohl er zentrale Elemente der Corona-Gesetzgebung scharf kritisiert hat. Das gilt ebenso für jene, die gegen Schulschließungen demonstrieren, die Sinnhaftigkeit gewisser Maßnahmen infrage stellen oder sich skeptisch gegenüber einzelnen wissenschaftlichen Studien äußern.

Die Gedanken sind frei

Gleichzeitig sind auch Anhänger von Verschwörungsmythen nicht automatisch ein gesellschaftliches Problem. Wer nicht an das Coronavirus glaubt, sich aber so an die Maßnahmen hält, dass er keine anderen gefährdet, kann das natürlich tun: Die Gedanken sind frei. Doch das Menschenrecht auf Leben derer, die gefährdet sind, muss im Rechtsstaat auch gewährleistet sein.

Verschwörungsmythen gehörten schon immer zu Menschen in der Krise dazu, es ist aber ein Irrtum zu glauben, sie würden einfach wieder von selbst verschwinden, wie der Historiker Claus Oberhauser, der zu Verschwörungstheorien forscht, kürzlich auf der Tagung "Corona verstehen" der Uni Innsbruck betonte. Man könne sich natürlich fragen, ob man ein "randständiges Phänomen" ernst nehmen müsse, so Oberhauser, der dafür plädiert, sich lieber mit der Frage zu beschäftigen: "Woher kommt überhaupt dieses große Misstrauen?"

Zum Sicherheitsproblem werden Anhänger von Verschwörungsmythen, wenn sie ihre Glaubenswelt in Handlungen übersetzen oder andere dazu anstacheln. Aber was sind die Motive dafür, sich gegen wissenschaftlichen Konsens und die gesellschaftliche Mehrheit zu stellen? Wie wurde das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes zum Politikum? Warum tragen etwa die Finnen Masken ohne Mucken, ohne dass sie es gesetzlich müssen?

Aufseiten der "Influencer", der Meinungsmacher, sind die Motive oft niedrige. Wer schon einmal auf einer Ufo-Messe war, erkennt, dass hier viel Geld im Spiel ist. Scharlatane verkaufen Bücher und Tickets für Veranstaltungen oder lassen sich für "Therapiestunden" buchen. Sie verdienen damit nicht nur, sondern werden auch berühmt.

Falsche Äquidistanz

Bekannter als früher sind nun jedenfalls auch jene Wissenschafter und Mediziner, die sich gegen wissenschaftlichen Konsens stellen: etwa Sucharit Bhakdi, Professor im Ruhestand. Sein ehemaliger Arbeitgeber, die Universität Mainz, distanzierte sich öffentlich von Bhakdis Aussagen zu Corona. Diese seien "unwissenschaftlich". Bhakdi ist trotzdem regelmäßiger Gast im Corona Quartett von Servus TV, das von Michael Fleischhacker moderiert wird. In der Sendung diskutieren vier Gäste, meist werden zwei "Corona-Kritiker" wie Bhakdi geladen, dazu zwei Personen, die den wissenschaftlichen Konsens abbilden.

Dadurch wird ein Bild der falschen Äquidistanz, also der falschen Verhältnisse, erzeugt. Mitdiskutieren durfte etwa eine Grazer Ärztin, von der sich die steirische Krankenanstaltengesellschaft kurz zuvor getrennt hatte. Sie hatte bei einer Demonstration von Corona-Leugnern auf der Bühne behauptet, dass das Virus keine besondere Gefahr für ältere Menschen und andere Risikogruppen sei – und Masken "nur der Demütigung" dienten.

"Bothsidesism" nennt das Historiker Oberhauser, der betont, dass es für die Wissenschaft zum echten Problem wird, wenn in Medien "sensationelle Meinungen gleich hingestellt werden wie der wissenschaftliche Konsens". So entstehe "Unsicherheit in der Gesellschaft". Und die wird zur echten Gefahr. (Fabian Schmid, Colette M. Schmidt, 30.11.2020)