Überblickt man das aktuelle Angebot an mechanischen Zeitmessern, könnte man den Eindruck gewinnen, dass viele Marken allzu tief in ihren Archiven gekramt haben. Wiederauflagen allerorts, man geht auf Nummer sicher und trägt damit dem unübersehbaren Retro-Trend Rechnung: Bekanntes verkauft sich eben gut. Dies geht teilweise Hand in Hand mit dem unübersehbaren Boom der Vintage-Uhren. Sprich: Frisches Design ist schwer zu finden.

Nichts am Hut

Eine Ausnahme ist beispielsweise Rado. Schließlich hat sich die Swatch-Group-Marke das Thema Design ganz oben auf die Fahne geheftet. Zwar übt man sich dort auch in Wiederbelebung – siehe Captain Cook, ein Bestseller wie zu hören ist. Aber man wagt auch Neues und kooperiert mit namhaften Gestaltern, die oftmals mit dem Thema Uhr nichts am Hut haben.

True Square Formafantasma von Rado
Foto: Rado

So holte man sich für die jüngst vorgestellten Zeitmesser aus der True Square-Kollektion unterschiedliche Designer an Bord. Etwa das italienisch-niederländische Duo Formafantasma, bestehend aus Andrea Trimarchi und Simone Farresin. Zwar ließ man sich auch hier von der Vergangenheit inspirieren, konkret dem historischen Konzept einer geschlossenen Uhr, wie es ursprünglich bei Taschenuhren Verwendung fand. Der Deckel der Uhr war dazu gedacht, das Zifferblatt und den empfindlichen Mechanismus im Inneren zu schützen. Nur eine kleine Öffnung gewährte Einblick in die Zeitanzeige, der eigentlichen Funktion einer Uhr. Damit hat es sich aber mit den Ähnlichkeiten.

Andrea Trimarchi und Simone Farresin sind Formafantasma.
Foto: Rado

Material der Wahl ist, wie bei Rado üblich, Keramik. So wurde das quadratische Monobloc-Gehäuse aus einem Guss mittels einer neuen Technik hergestellt. Die Ton-in-Ton-Optik verleiht der True Square Formafantasma eine "geisterhafte" Erscheinung. "Wir waren an der Uhr als Werkzeug, als Instrument interessiert, nicht in ihrer Eigenschaft als Statussymbol oder Luxusobjekt. Die Uhr, die wir designt haben, ist sehr schlicht, fast nackt. Wir wollten etwas machen, das in seiner Schlichtheit gerade zu radikal ist", sagen Trimarchi und Farresin, die für den Entwurf ein Jahr investierten. Denn: "Die schlichten Dinge sind oftmals die schwierigsten."

True Square Undigital von Rado
Foto: Rado

Ihre Kollegen YOY, einem japanischem Design-Studio, wiederum widmen sich in ihrer Version einer True Square der Art, wie wir die Zeit ablesen: "Wenn wir die Uhrzeit wissen wollen, ist es üblich auf ein Smartphone zu schauen, selten auf eine Armbanduhr", umreißen dessen Gründer Naoki Ono und Yuki Yamamoto ihre Herangehensweise und halten fest. "Armbanduhren sind mehr als nur eine Möglichkeit, die Zeit zu bestimmen. Sie spielen eine emotionale Rolle, die fast noch wichtiger ist." Eine Vielzahl von Dingen in unserer modernen Welt sei digital geworden, einschließlich Uhren. "Wir dachten, wir könnten in diesem Zusammenhang eine neue Ausdrucksform finden, indem wir digitale Gegenstände in die analoge Welt bringen", erzählen die beiden.

YOY-Gründer Naoki Ono und Yuki Yamamoto
Foto: Rado

Deshalb verbindet die von YOY gestaltete, mattschwarze True Square Undigital die quadratische Rado Hightech-Keramikuhr mit einer "digitalen" Anzeige. Diese spielt mit den unverwechselbaren Formen der Siebensegmentanzeige – dem klassischen Gesicht einer Digitaluhr – und überträgt sie auf die analoge Zeitanzeige mit Zeigern.

Rado True Square Tej Chauhan
Foto: Rado

Während Formafantasma und YOY in der Farbgebung ihrer Entwürfe auf monochromatische Schlichtheit setzen, kann man das von der dritten True Square im Bunde nicht behaupten. Der Industriedesigner Tej Chauhan hat "seiner" Uhr ein mattgelbes Gehäuse verpasst und setzt auf dem mattschwarzen Zifferblatt mit silberfarbenen konzentrischen Kreisen kontrastierende Minuten- und Stundenzeiger mit weißer Lackierung, die Sekunde ist mit neonroter Farbe versehen. Der letzten Viertelstunde hat der Brite blaue Indexe verpasst.

Der Industriedesigner Tej Chauhan
Foto: Rado

Künstlerisch habe er sich dabei von den zeitlosen Zukunftsvisionen der Popkultur, von Film über Typographie bis Farbenlehre, inspirieren lassen. "Kubrick, Syd Mead, Herb Lubalin; viele meiner Referenzen sind über 50 Jahre alt und wirken heute und ganz sicher auch morgen immer noch frisch und neu", wie er schildert.

Stefan Sagmeister und Ressence

Schwimmende Scheiben statt Zeiger, Fotovoltaik und ein elektronisches "Gehirn": Die Ticker der belgischen Uhrenschmiede Ressence weisen der Branche einen möglichen Weg in die Zukunft. Die Marke, die Industriedesign mit klassischer Uhrmacherei verbindet, hat ob dieser Alleinstellungsmerkmale viele Freunde im Silicon Valley aber auch unter Kreativen.

Nun lanciert man zum zehnjährigen Geburtstag eine spannende, limitierte Serie der Typ 3X, der einst weltweit ersten, mit Öl gefüllten, mechanischen Uhr. Unter dem Motto "Now is Better" hat Stefan Sagmeister Hand angelegt. Der gebürtige Österreicher, weltbekannt als Grafikdesigner, Storyteller und Typograph, ist selbst Kunde der Marke.

Typ 3X von Ressence
Foto: Ressence

Der Typ 3X ist Teil der Ressence-Sammlung X, aber auch eines größeren Projekts von Sagmeister. Es hat mit langfristigem Denken zu tun. Sein Zugang: Kurzfristige Medien wie Twitter und stündliche Nachrichten geben den Eindruck einer außer Kontrolle geratenen Welt, allgegenwärtigen Konflikten und einer allgemeinen Angst davor, dass wir kurz vor dem Weltuntergang stehen würden, Stichwort Corona.

Optimismus am Handgelenk

Wenn man die globale Entwicklung aber aus einer langfristigen Perspektive betrachtet, stelle man fest, dass es der Menschheit besser geht als je zuvor: Weniger Menschen hungern, weniger Menschen sterben in Kriegen und durch Naturkatastrophen, mehr Menschen leben in Demokratien. Vor 200 Jahren konnten neun von zehn Menschen weder lesen noch schreiben, jetzt ist es nur noch einer von zehn. Sagmeister ist eben Optimist.

Stefan Sagmeister hat der Typ 3X ein optimistisches Antlitz verliehen.
Foto: Ressence

Und lässt diesen Optimismus auf das Zifferblatt der Typ 3X wandern: So finden sich die Worte "Now is Better" auf der Minutenskala des Zifferblatts. Der neue Datumsring um das Zifferblatt wiederum besteht aus 280 farbigen Linien: 140 blauen Linien und 140 orangefarbenen Linien. Es gibt also orange und blaue Tage. Jeden Tag um Mitternacht wechselt die Farbe von Orange nach Blau oder von Blau nach Orange. Eine dieser 140 Linien hat eine umgekehrte Farbe. Wenn also 139 Zeilen orange sind, ist eine blau. Diese umgekehrte farbige Linie zeigt den Tag des Monats an und dreht sich in 30 Tagen um das Zifferblatt. Wenn also die umgekehrte Markierung bei 15 Uhr angekommen ist, heißt das, dass ein Viertel des Monats vergangen ist.

Letztendlich sei dies ein Versuch, den Träger daran zu erinnern, die Welt nicht einen Tag nach dem anderen, sondern aus einer viel längeren Perspektive zu betrachten. Diesen tickenden Optimismus muss man sich aber auch leisten können. Immerhin kommt die auf 40 Stück limitierte Uhr auf 42.000 Euro. (Markus Böhm, 1.12.2020)

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