Natürlich verstehe ich die Frage. Schließlich stelle ich sie mir selbst oft genug. Und je öfter ich sie mir selbst stelle, umso schwieriger wird es, die Antwort darauf zu geben. Schließlich führt die einfache Antwort auf die scheinbar einfache Frage ziemlich sicher dazu, dass ich mich einfach umdrehe und weiterschlafe.

Denn auf das "Warum tut ihr das?" gibt es keine vernünftige, keine sinnvolle, keine zwingende Antwort. Sonst, in normalen Zeiten, nicht. Und jetzt schon gar nicht: Es gibt keine Bewerbe, auf die es hinzutrainieren gilt. Wobei ja auch da die Wozu-Frage in meiner (und wohl auch Ihrer) Liga durchaus berechtigt wäre. Und in Lockdown-, Homeoffice-, Kurz- oder Garnichtarbeitszeiten um fünf aufstehen, um vor sechs loszurennen, wenn man doch tagsüber …? Nein, mit einer rationalen, vernünftigen, für alle nachvollziehbaren Antwort auf die Wozu-Frage kann ich nicht dienen.

Foto: Tom Rottenberg

Nur: Das muss ich ja auch nicht. Und ich will es auch gar nicht. Wer es versteht, versteht es – und wer nicht, eben nicht: "Ihr seid schon ein bisserl dings", schrieb vergangene Woche jemand, als er (oder sie?) die Bilder von Ed und mir beim Kaltwasserschwimmen in der Neuen Donau sah. Ob das Wasser da nun 11, 9 oder 7 Grad hatte, spielt für dieses Verdikt keine Rolle. Und ob mein Spezial- (und Test)-Neo für Wassertemperaturen bis 12 oder doch 10 Grad ausgelegt ist, auch nicht: Wenn man ihn "flutet" (und das muss man), wird es in jedem Fall saukalt.

Und Gesicht, Nacken, Zehen und Finger … Oida! Kurz: Ja, wir sind "dings"! Und: Nein, erklären, wieso ich es trotzdem liebe und wir uns auch diese Woche wieder die eisige Kante gaben, kann ich nicht. Aber das ist normal: Bitten Sie einen Briefmarkensammler (gibt es -sammlerinnen?), die Motivation seiner oder ihrer Passion so zu beschreiben, dass auch Sie Feuer fangen: Es wird nicht funktionieren – außer Sie glimmen eh schon insgeheim ein bisserl.

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Das mit dem kalten Wasser ist lediglich eine Spur spektakulärer als Briefmarkensammeln. Aber sonst? Okay, körperlich eventuell einen Tick fordernder. Aber darum geht es nicht. Nicht hier und heute: Die versprochene Kaltwasserschwimmgeschichte kommt demnächst – und zwar inklusive der Abers, also etwa inklusive der ernstzunehmenden Warnungen und Hinweise von Sportmedizinern wie Robert Fritz und Anmerkungen echter Auskenner.

Leuten wie Wiens Eiswasser-Guru Josef Köberl etwa. Also Leuten, die diesen Stunt ganz locker und wie selbstverständlich auch ohne Neo schaffen – und trotzdem oder gerade deshalb dringend davor warnen, das unvorbereitet und allein "einfach so" auszuprobieren. Genau diese Abers sammle ich noch, bei Warum-Erklärungsversuchen reicht dagegen die Ich-Erzähler-Perspektive.

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Eine mögliche, immer noch schlichte Antwort auf die "Warum tut man das"-Frage, lautet: "Weil ich es kann." Die ist, zugegeben, ein bisserl patzig. Und stimmt so ja auch nicht ganz: Um das zu können, muss man zwar manchmal schon ein bisserl üben. Beim Schwimmen etwa (dazu, wie gesagt, demnächst mehr). Aber beim Laufen? Laufen in der Früh oder im Dunkeln erfordert weder spezielle Fähigkeiten noch Ausrüstung: Die Stirnlampe ist lediglich ein Nice-to-have, wenn Sie bei "schwarzer Luft" nicht ausschließlich auf den in der Stadt gut ausgeleuchteten asphaltierten Wegen bleiben wollen.

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Schon am Donaukanaltreppelweg, aber erst recht dann im Prater abseits der Hauptallee würde ich mich ohne Scheinwerfer deutlich weniger wohlfühlen. Und ganz anders laufen. Genau deshalb schalte ich den Scheinwerfer aber manchmal aus: um zu spüren, wie Schrittlänge und Schrittfrequenz sich ändern, wenn der Fuß den Untergrund selbst erkunden, selbst ertasten muss. Das ist auch eine technische Übung. Aber in Regionen, in denen ich nicht auf allen Vieren in einer Viertelstunde beim nächsten Öffi wäre, würde ich bei einem Solo bei Kälte davon dringend abraten.

Trotzdem: Ich liebe es. Die Dunkelheit. Den Lichtkegel genauso wie die tastende Unsicherheit. Nur: Stehe ich deswegen um fünf auf? Eher nicht.

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Eine andere mögliche Antwort auf die Warum-Frage lautet: "Weil es nicht jeder kann." Das klingt und ist überheblich. Weil es so auch nicht stimmt: zumindest dann nicht, wenn man mit "können" auf das Vermögen als Fähigkeit abzielt. Es gibt zigtausende Menschen, die um diese Zeit längst auf und wach sind, weil sie müssen. Weil sie jene Infrastruktur am Laufen halten, ohne die ich diesen oder anderen Spaß gar nicht haben könnte. Just diesen Leuten ein "Weil es nicht jeder kann" entgegenzurufen macht keinen schlanken Fuß – auch wenn ich es anders meine.

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Denn natürlich meine ich jene Menschen, die es nicht aus dem Bett schaffen. Oder sonstwie aus der eigenen Komfortzone: Früh aufstehen ist da genauso nur eine in den Alltag gehobene Metapher wie kaltes Wasser. Oder sonst eine Grenze. In meiner Welt sind Sätze wie "Life starts at the end of your comfortzone" gängige Allgemeinplätze. Weil ich, wir, wissen, was dahinter beginnt. Oder eigentlich: Weil wir dieses Gefühl kennen. Und weil dieses Gefühl, die Sehnsucht danach, süchtig machen kann. Sei es das Erleben, Erreichen oder Überschreiten körperlicher und immer individueller Grenzen. Sei es das Sehen und Erleben der Umwelt.

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Wenn in einem rein schwarzen Himmel die ersten düsterblauen Flecken auftauchen und sich dann rötliche Schimmer und Einsprengsel am Horizont dazugesellen. Oder wenn Sie nicht nur die Spuren der Biber den Weg entlang sehen, sondern einer der schwimmenden Nager zum ersten Mal und zu schnell, um die Kamera anzuwerfen, kurz neben Ihnen herschwimmt, Sie beim Laufen am Ufer beäugt und dann so elegant und schnell und spurlos abtaucht, dass es Ihnen den Atem verschlägt: Nein, das kann nicht jeder und jede sehen und erleben. Schlicht und einfach, weil die Tiere sich zurückziehen, sobald die Menschen den Raum zu besetzen beginnen. Dass das in den Tagesrandzeiten nur wenige überhaupt wollen, ist deshalb gut. Nicht nur für mich und meinen Erlebnishorizont.

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Aber natürlich schafft man dann Begehrlichkeiten. Etwa wenn man vor Sonnenaufgang auf dem Fußweg unter der Tangentenbrücke nach Osten schaut und die Stimmung auf und über dem Fluss einfängt. Ohne Filter und mit der einfachen Popelcam am Handy.

Sonnenaufgänge sind Kitsch. Vor-Sonnenaufgänge auch. Aber: Na und? Diese Stimmung und dieses Gefühl löst eben etwas aus. Nicht nur bei mir. Und nicht nur an Orten, die man auf Listen mit den zehn besten Tagesanbruchsausblicken der Welt findet: dort sowieso, aber eben nicht nur.

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Ich bin in einem anderen Leben für solche Sonnenaufgangserlebnisse auch schon zwischen 4.000 Backpackern in Angkor Wat gestanden. Natürlich war das ein Hammergefühl. Für jeden und jede, die dort im Damals-doch-noch-mehr-als heute-Dschungel standen.

Genauso wie Sonnenaufgänge auf Berggipfeln. Oder schwimmend im Meer, 200 oder 300 Meter vom Strand entfernt. Ein unbeschreibliches Gefühl, das auch nicht weniger wert ist, wenn man dabei alles andere als allein ist: Schönes wird fast immer schöner, wenn man es teilt.

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Wobei es dann eben irgendwann eine "kritische Masse" gibt: Wenn nach Sonnenaufgang 4.000 Menschen vor der Tempelkulisse von Angkor im "Lonely Planet" die Bookmarks des nächsten total individuellen Erlebnisses suchen und einen Müllberg zurücklassen, tut das ein bisserl weh. Erst recht, wenn man irgendwann übernasert, dass dieses Gefühl auch daheim abrufbar ist. Fußläufig. Für jeden und jede. Komplett kostenlos. Gratis, aber alles andere als umsonst. Man muss dafür nur eines tun: den Schritt vom Wollen zum Tun machen. Aufstehen. Sich auf den Weg machen – also die Komfortzone hinter sich lassen.

Das geht nicht nur an der Donau (dieser Spot ist von mir daheim aber rund eine Stunde laufen weit weg, womit wir wieder beim "können müssen" wären), sondern an 1.001 Orten. An etliche kommt man in Wien sogar mit der U-Bahn.

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Und dann kommt der Moment, wenn nach den 20, 30 oder 40 Minuten, in denen der Himmel sukzessive heller und röter wird, in denen die Wolken nicht wirklich ihre Farben, aber doch Schattierung und Nuancen ändern, plötzlich dieser orange Punkt am Horizont auftaucht. Stecknadelkopfklein. Aber so stark und schön, dass er alles andere überstrahlt: Sorgen, Trauer, Ängste, Einsamkeit – aber auch die Kälte oder die Zweifel, ob es sich wirklich auszahlt, aufzustehen und sich ins Hamsterrad zu stellen.

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Und so langsam davor alles war, so sehr die Nacht sich an den Himmel klammerte und dem Tag, dem Leben nur träge und wie in Zeitlupe Fußbreit um Fußbreit Raum gab, geht es jetzt plötzlich schnell: Dass aus dem kleinen Punkt eine große Scheibe wird, dauert meist nur ein paar Minuten.

Manchmal sogar kürzer.

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"Moments money can't buy" nennt ein Hashtag solche Augenblicke.

Dem habe ich nichts hinzuzufügen.

Ich bin dann einfach da.

Sprachlos. Glücklich.

Aber wenn Sie mich fragen, wieso ich "das alles" tue, habe ich trotzdem keine Antwort für Sie.

Nur eine Anregung: Probieren Sie es selbst. Dann spüren Sie es.

Vielleicht. Hoffentlich. (Tom Rottenberg, 1.12.2020)


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