Maria Katharina Moser, Direktorin der Diakonie Österreich, schreibt in ihrem Gastkommentar über den "Tunnelblick, den wir entwickelt haben" und welche ethischen Fragen sich stellen.

Der Tod ist der Staatsfeind Nummer eins in der Covid-Pandemie. Er gewinnt an Terrain, nicht zuletzt auf dem Gebiet der Alten- und Pflegeheime, wo gut ein Drittel der an Covid verstorbenen Menschen lebte. Den letzten Abwehrkampf führen Ärztinnen und Ärzte wie auch das Pflegepersonal mit schier übermenschlichem Einsatz in den Krankenhäusern.

Wie ein Damoklesschwert hängt die Triage über ihnen. Sollte sie unumgänglich werden, wird das Alter – Gott sei Dank – kein Kriterium sein. Denn der Schutz der Person und ihrer Würde verpflichtet zur Gesundheitsversorgung ohne Differenzierung nach nichtmedizinischen Kriterien. Dennoch würde es Hochbetagte und Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner treffen, denn bei den medizinischen Kriterien für Triage – Überlebensaussichten und Komorbidität – haben sie schlechte Karten.

Muss jede an Corona schwer erkrankte Person eine Intensivbehandlung bekommen? Was kann die Palliativmedizin leisten – und was nicht?
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Jeden Tag bekommen wir einen Lagebericht im Fernsehen präsentiert. Die Zahl der Covid-Toten. Und die Zahl der Intensivbetten. Der starre Blick auf die Intensivbetten führt zur Überzeugung: Jede Person, die schwer an Covid-19 erkrankt, muss auf jeden Fall eine Intensivbehandlung bekommen. Wozu das führen kann, berichtet der Narkosepfleger Martin Alge auf Twitter: "Angehörige drohen unseren Ärzten mit Klage, wenn wir nicht trotz infauster Prognose (keine Aussicht auf Heilung, mit dem Tod ist zu rechnen) die Maximaltherapie fortsetzen." Im Kampf gegen den Staatsfeind Nummer eins entwickeln wir einen Tunnelblick. Fragen werden ausgeblendet. Es ist Aufgabe der Ethik, sie aufs Tapet zu bringen: die Fragen nach Indikation, Therapieziel und Patientenautonomie.

Atemnot lindern

Wann ist eine intensivmedizinische Intervention angezeigt? Liegt eine Indikation für eine lebensverlängernde Behandlungsmaßnahme vor, oder würde eine solche dem Patienten mehr schaden als nutzen, und ist folglich von kurativer auf palliative Therapie umzustellen? Diese Frage stellt sich bei jeder schweren Erkrankung. Auch bei Covid. Kein Intensivbett heißt nicht, einfach sterben zu lassen, heißt nicht, nicht zu behandeln, sondern anders zu behandeln.

Palliativmedizinerinnen und -mediziner sagen, Atemnot kann gelindert werden. Sie haben Erfahrung mit vergleichbaren Krankheitsverläufen. Wo sind ihre Stimmen im medialen Konzert der Expertinnen und Experten? Was kann die Palliativmedizin leisten, was nicht? Gibt es einen palliativen Pandemieplan? Haben wir ausreichend Kapazitäten, um sicherzustellen, dass alle Patientinnen und Patienten eine optimale Palliativversorgung bekommen?

Der richtige Weg?

Für Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner stellt sich auch die Frage: Ist eine Einweisung ins Krankenhaus immer der richtige Weg? Wie können unnötige Einweisungen verhindert werden? Provokante Fragen. Die Nachrichten aus Norditalien und dem Elsass im Frühjahr prägen das Bild in unseren Köpfen: Verbleib im Pflegeheim statt Intensivbett bedeutet ein sicheres Todesurteil, elendes Zugrundegehen.

Selten bekommen wir Einblicke wie jenen, den Gian Domenico Borasio, Professor für Palliativmedizin an der Universität Lausanne, in einem Interview mit dem deutschen Magazin Cicero gibt: "Wir haben viele Patienten gesehen, die in den Pflegeheimen trotz schwerer Symptome und hohen Alters dank guter Symptomkontrolle und exzellenter Pflege überlebt haben." Erfahrungen aus der Zeit vor Corona würden nahelegen, dass die Chance, Covid zu überleben, bei den meisten Bewohnerinnen und Bewohnern höher sei, wenn sie blieben, wo sie sind. Freilich, auch das ist alles andere als eine Garantie.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner, die meist multimorbid sind, an Covid sterben, ist hoch. Umso dringlicher sind Fragen wie: Wo verbringen sie ihre letzten Tage? Sind sie palliativ gut versorgt? Müssen sie nicht an Atemnot leiden? Können Angehörige sie besuchen, sich verabschieden? Die Voraussetzung für all das ist ausreichend und entsprechend geschultes Personal in Pflegeheimen, das in Krisenzeiten zusätzliche Unterstützung bekommt, etwa durch mobile Palliativteams.

Ziele klären

Und dann ist da noch die Frage nach der Patientenautonomie: Werden Vorsorgedialoge mit Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohnern geführt, wird mit ihnen besprochen, was sie im Fall des Falles wollen? Wenn Covid-Erkankte ins Krankenhaus kommen, werden sie zeitnah informiert über mögliche Krankheitsverläufe, die Bedeutung von Indikationen und dass bei fehlender Indikation intensivmedizinische Maßnahmen nicht durchgeführt werden? Gibt es eine frühzeitige Klärung der Behandlungsziele mit Patientinnen und Patienten wie Angehörigen?

Advanced Care Planning, bei dem all das gefragt wird, kann – darauf hat die Bioethikkommission hingewiesen – dazu beitragen, Triage-Szenarien zu entschärfen. Das freilich macht den Blick auf unsere Fragen nicht einfacher. Sie müssen zwar bei jeder schweren Erkrankung gestellt werden, unabhängig von Covid und Triage, sind aber gleichzeitig verquickt mit Triage.

Heißt unsere Fragen zu stellen also doch, die Heilungsabsicht aufzugeben, vor dem Tod zu kapitulieren? Ich denke nicht. Der Erfolg in der Bewältigung der Covid-Krise bemisst sich nicht nur daran, wie viele Menschen sterben, sondern auch daran, wie sie sterben. Diese Einsicht ist schmerzlich. Sie weist uns unsere Grenzen auf. Die Grenzen des Machbaren. Die Grenzen der Beherrschbarkeit des Todes. (Maria Katharina Moser, 2.12.2020)