Bekennt, dass es ihm "ziemlich egal" sei, wenn er ohne seine dritten Zähne außer Haus gehe, und dass er beim Hören von Paul McCartney zuweilen weint: Michel Houellebecq.

Foto: Philippe Matsas / Flammarion

Da erlebt die Welt ihre größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, und es ist Michel Houellebecq noch immer nicht genug. Für den Chronisten zerfallender Gesellschaften ist das Coronavirus nämlich eines ohne Glamour und ohne Eigenschaften. Zwar töte es täglich tausende Menschen, sei aber doch bloß mit Grippeviren verwandt und außerdem nicht einmal sexuell übertragbar. So ist es irgendwie schlüssig, dass Houellebecq der Pandemie nicht zutraut, die Welt verwandelt zurückzulassen. Einzig werden sich Tendenzen wie Streaming, bargeldloses Bezahlen oder die Reduktion zwischenmenschlicher Kontakte beschleunigt haben, meint er. Und erinnert damit an eine Welt, die in seinen Büchern weidlich vorkommt.

Man könnte also so sagen: Es wird nach Corona alles so sein wie immer, nur "ein bisschen schlechter." So lautet auch der Titel des heute erscheinenden Bandes mit Essays, Gesprächen, Buchvorworten und Briefen Houellebecqs aus den vergangenen acht Jahren. Es sind seine dritten Interventionen und sollen, wenn es nach ihm geht, auch die letzten sein. Er werde nicht aufhören zu denken, aber seine Gedanken nicht mehr öffentlich äußern – außer in schwerwiegenden Notfällen, lässt der Autor wissen. Die eingangs zitierten Corona-Visionen legte er in einem Brief, den er im Radio verlesen ließ, im Mai dieses Jahres nieder. Insofern ist nun kein großer Skandal – wie bei Büchern Houellebecqs sonst üblich – zu erwarten. Alle versammelten Texte waren schon bekannt und haben ihre Sprengkraft gegebenenfalls bereits entfaltet.

Aufsehenerregende Figur

Etwa der im Jänner 2019 im amerikanischen Harper’s Magazine veröffentlichte Artikel Donald Trump ist ein guter Präsident, der sich in dem Buch wiederfindet und in dem Houellebecq Donald Trumps hegemoniale und wirtschaftliche "Politik des Rückzugs" lobte. Die Aufregung war groß, unterschlug aber Teile seiner Aussagen zum US-Präsidenten. Es gehört auch zu Houellebecqs Einschätzung, dass er Trump "in persönlicher Hinsicht (...) ziemlich widerwärtig" findet.

Elementarteilchen,Plattform,Die Möglichkeit einer Insel,Unterwerfung über eine islamistische Regierung in Frankreich 2022 oder zuletzt Serotonin – Houellebecq ist vielleicht der wichtigste, auf jeden Fall aber der aufsehenerregendste lebende Autor Frankreichs. Das Schreiben des 64-Jährigen agiert im Spannungsfeld von Provokation und Ambivalenz.

Auf Deutsch hat man jene Texte, die bereits 1998 und 2009 als Interventionen erschienen sind, in Ein bisschen schlechter weggelassen. In Frankreich umfasst das Buch aber auch sie und ist mit 464 Seiten doppelt so dick. Kommentatoren konstatierten dort nach seinem Erscheinen im Oktober, Houellebecqs Positionen seien heute rechter als bisher und stellten sich gegen die multikulturelle Gesellschaft.

Man möchte dagegen aber Zweifel anmelden. Wenn Houellebecq feststellt, dass wir "in Europa weder eine gemeinsame Sprache noch gemeinsame Werte, noch gemeinsame Interessen" haben, und er deshalb folgert, "Europa existiert nicht", trifft er damit angesichts jüngster Debatten um Flüchtlingsverteilung und Rechtsstaatlichkeit nicht einen springenden Punkt? Und sind Sätze wie "Der Kampf gegen den Islam ist eine der Konstanten in der langen Geschichte Europas; er ist nur wieder an die erste Stelle getreten" nicht im Grunde weniger aufrührerisch denn registrierend?

So sieht Houellebecq auch seine Literatur: als "Prognosen" basierend auf Phänomenen, derer er gewahr wird. Der Leser soll in ihr "Erleichterung" finden, sagt er, weil sie "Ausdruck der Angst seiner Epoche" sei, indem sie "alles Negative der Welt" darstelle. Ob das Islamismus oder verunsicherte Männer betrifft.

Das Leben als Traum

Und nicht nur da zeigt sich der oft als Skandalautor titulierte Pessimist als Humanist. So wurde etwa "nie mit einer so gelassenen Schamlosigkeit ausgesprochen, dass nicht jedes Leben gleich viel wert ist", wie im Zuge von Corona, prangert er an. In einem anderen Text wirft sich Houellebecq für Wachkomapatienten und gegen die Sterbehilfe ins Gefecht und zeichnet eine Gesellschaft, die das ihr nicht mehr Genehme zunehmend entfernt, als Schreckgespenst an die Wand. Denn selbst ein Leben, "das nur aus Träumen besteht, ist es in meinen Augen wert, gelebt zu werden". Wohl nähme er da auch gerne den Katholizismus mehr in die Pflicht, über den es anderswo heißt, er müsse wieder orthodoxer werden und sich weniger in weltliche Dinge wie Forschung, Regierungen und Sex einmischen.

Dass er ein Nihilist sei, dagegen wehrt Houellebecq sich. In seiner Klassifizierung ist er wohl ein Konservativer. Im ersten Aufsatz lobt er die Konservativen als Quelle des Fortschritts und im Gegensatz zu den Reaktionären und den Revoluzzern für den Versuch, dass "sich der Übergang von einer Generation zur nächsten unter minimalem Aufwand vollzieht", sodass wenig Spannungen aufträten. Es sind Überlegungen, deren Zweifel und aufrichtige Ambivalenz man trotz mancher Allüre anerkennen muss. (Michael Wurmitzer, 3.12.2020)