Jutta Lampe brachte Figuren des Hochklassizismus zur Weißglut: Der Berliner-Schaubühnen-Star bildete den Mittelpunkt in Peter-Stein- und Luc-Bondy-Inszenierungen.

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Wenn alles Unglück der Welt eine weibliche Bühnenfigur heimsuchte, dann schien es einzig der Schauspielerin Jutta Lampe gegeben, sich über jeden Schmerz zu erheben. Lampe vermochte bitterstes Leid, ebenso wie blindes, von den Göttern verhängtes Begehren, in den reinen Gesang ihrer vollendet beherrschten Sprache zu verwandeln.

Die 1937 (nach anderen Angaben: 1943) geborene Flensburgerin gehörte zu den kostbarsten Schauspielerinnen der Berliner Schaubühne: ein zartes, traumverlorenes Geschöpf, auf dessen schmalen Schultern häufig genug die ganze Last der Schaubühnen-Ästhetik zu liegen kam. Seit 1971 gehörte Jutta Lampe dem Ensemble der Schaubühne am Halleschen Ufer an (man übersiedelte später an den Lehniner Platz). Sie bildete neben Edith Clever das zweite weibliche Zentralgestirn in diesem beispiellosen Versuch, die verstandesscharfe Ästhetik der Aufklärung mit den eher kultischen Aspekten der alten Theaterüberlieferung zu versöhnen.

Utopische Suche

Zu diesem Bestreben gehörte nicht zuletzt das Modell der Mitbestimmung, das in der Bundesrepublik einzigartig blieb (mit der einen Ausnahme von Frankfurt/Main). Vor allem aber suchten Köpfe wie Peter Stein und Klaus Michael Grüber nach Anhaltspunkten, wie man die Welt in einen besseren, menschenfreundlicheren Ort verwandeln könnte.

An der Seite von Regisseur und Gefährten Stein bestieg die Lampe voller Anmut die Kothurne der (früh)vollendeten Tragödin. Sie hatte bereits in den 1960er-Jahren im Bremer Theater unter der Obhut des nimmermüden Talente-Scouts Kurt Hübner auf sich aufmerksam gemacht. Sie bildete in Steins berühmtem Torquato Tasso für Bruno Ganz (in der Titelrolle des unheilbar Gekränkten) dessen gleichsam heiter-apollinisches Gegenüber.

Advokatin gebrochener Figuren

Jutta Lampes Figuren vermochten die Umwelt sonnenhell zu erwärmen. Zugleich war diese letztlich undurchschaubare Nervenschauspielerin die Advokatin gebrochener, kaum jemals mitteilsamer Figuren. In den Stücken des Ex-Schaubühnen-Dramaturgen Botho Strauß zum Beispiel verkörperte sie seltsame Mischwesen, die aus einer mysteriösen Vorwelt in die verschwätzte Gegenwart hereinreichten. Unvergesslich ihre Katrin in Kalldewey, Farce (1982).

Sie schien überdies wie gemacht für die heiter schwebende Nuance im nie ganz erdenfesten Theater ihres zweiten Hauptregisseurs, des Götterlieblings Luc Bondy. Nichts an der Kunst dieser Magierin war versöhnlich. Auch nicht, als sie als fiebrige Phädra (1988) Peter Steins inszenatorischen Klassizismus – bei aller Gefasstheit der äußeren Erscheinung – gleichsam inwendig zur Weißglut brachte.

Jutta Lampe machte als Tschechow’sche Diva den allergrößten Eindruck: mit ihren riesengroßen Augen, die ein pikiertes Staunen auszudrücken vermochten. An der Lampe perlte jeder Anflug von Vulgarität wirkungslos ab (siehe ihre Gräfin in Luca Ronconis Inszenierung der Riesen vom Berge 1994).

Sie fand sich aufgrund ihres fabelhaften Handwerks im geometrischen Paralleluniversum von US-Magier Robert Wilson sofort spielend zurecht (1990 spielte sie in seiner Orlando-Inszenierung die Tirelrolle).

Betörendes Enigma

Zugleich blieb sie, die Schüchterne, Unnahbare, ein betörendes Enigma. Ihrer Persönlichkeit eigneten priesterliche Züge. Dabei kamen ihr die sonderbarsten Verse und rätselhaftesten Sätze wie Selbstverständlichkeiten über die Lippen: jedes Wort der Überlieferung ein Kleinod. 30 Jahre lang währte ihre Arbeit an der Berliner Schaubühne. Mit "Stückezertrümmerern" vermochte sie nichts mehr anzufangen. Sie blieb Schaum- und Kopfgeburt, und war doch einzig und allein, von ein paar Abstechern in Margarethe-von-Trotta-Filmen (Die bleierne Zeit) abgesehen, im Theater geerdet.

Jetzt ist Jutta Lampe in der Nacht auf Donnerstag, wie aus ihrem privaten Umkreis verlautete, 82-jährig gestorben. (Ronald Pohl, 3. 12. 2020)