Auf den Bauhäusler Walter Gropius und den Theatermann Erwin Piscator geht das Konzept eines "Endless Theatre" zurück. Architekt Friedrich Kiesler hat es 1925 aufgegriffen. Hier ein Grundriss seines Totaltheaters.

Foto: Österreichische Friedrich und Lillian Kiesler-Privatstiftung, Wien

Der zweite Lockdown trifft Theater, Tanz, Performance und alles, was dazugehört, anders und härter als der erste. Die Zwangspause im Frühjahr setzte nach einem kurzen Schock Energien frei. Künstler und die Institutionen entfachten ein Strohfeuer vorrangig digitaler Kommunikation, Sonntagsreden zum Wert der Kultur wurden auch werktags gehalten. Die Politik wärmte unbürokratisch Töpfe, aus denen Erste Hilfe geschöpft wurde. Man war kaltgestellt, genoss aber so etwas wie die Systemrelevanz der Herzen.

Der Mainstream des Theaters entdeckte die digitalen Medien. An der Schwelle zum "digitalen Raum" scheinen zumindest im Dramaturgen-Slang neue "Formen und Formate" auf, die dem Theater seine schon vor der Zeit der Pandemie schwindenden Wirkungsmöglichkeiten zu kompensieren versprechen. Leidet es doch an der Erosion dessen, was man bürgerliche Öffentlichkeit nennt.

Inzwischen macht sich Ernüchterung breit. Abgesehen davon, dass viele dieser Versuche im Theater den Charme des progressiven Kaplans teilen, der in den 1970er-Jahren schon mal zur E-Gitarre griff, um mit der Zeit zu gehen, muss das Konzept eines "digitalen Raumes" überdacht werden. Vielleicht ist er keiner, sondern die Metapher für ökonomische Beziehungen, die sich in einer technischen Struktur abgebildet haben.

Im Netz gefangen

Das Netz als öffentliches Gut ist eine Vision der frühen 1990er-Jahre, die technische Entwicklung unter den Bedingungen neoliberaler Ökonomie hat sie fürs Erste widerlegt. Insgesamt scheint das Theater digitale Kommunikation zu brauchen, aber digitale Kommunikation nicht das Theater.

Der zweite Lockdown ist nicht die Fortsetzung des ersten, sondern Tristesse mit unsicherem Ablaufdatum. Es wäre vielleicht hart, aber letztlich respektvoller gegenüber Kunst und Künstlern gewesen, den Umstand, dass an eine Öffnung von Kinos und Theatern im Dezember nicht zu denken ist, offen zu kommunizieren, als er absehbar war, und nicht erst mit der Macht der Verlautbarung zum letztmöglichen Moment. Die Kulturbetriebe haben den Sommer über reagiert und sich samt ihrem Publikum in rigide Hygienekonzepte eingeschnürt. Die Mühen bleiben unbedankt.

Ist die Rückkehr möglich?

Die zur Pandemiebekämpfung notwendige Verlangsamung der sozialen Interaktion trifft die Arbeit in der und für die Kunst besonders hart – einfach aufgrund der Art und Weise, wie diese im Normalfall stattfindet. Alle Maßnahmen aber, alle improvisierten Förder- und Überbrückungstöpfe nehmen den Sonderfall an, nach dem man baldmöglichst zu den Verhältnissen vor der Pandemie zurückkehrt.

Was aber, wenn’s nicht mehr wird? Wenn das Publikum nur zum Teil wiederkommt? Weil die Erfahrung der Pandemie nicht ohne Einfluss darauf bleibt, wie Menschen in Zukunft gesellschaftlich verkehren. Weil, selbst wenn Impfungen verfügbar, die Erkrankten gesundet und die Toten betrauert sind, das Virus vielleicht doch eine Spur im kollektiven Gedächtnis zurücklässt. Auch als Befangenheit, mit der man sich eben nicht mehr so leicht gemeinsam mit Fremden in die engen Sitzreihen eines Zuschauerraums begibt. Moderne Gesellschaften basieren auf einem Vertrauensverhältnis, das über konkrete Erfahrung hinausgeht. Das setzt die Geltung eines weitgehend befriedeten öffentlichen Raums voraus, in dem Körper einander gefahrlos begegnen können. Das Virus hat diese – öffentliche – Sicherheit nachhaltig beeinträchtigt: Dein Körper kann mein Feind sein, ohne dass du oder ich davon wissen.

Diese Erfahrung erfordert es, Distanzen, Territorien und das Konzept des öffentlichen Raums einmal mehr und immer wieder neu auszuhandeln. Das könnte Aufgabe und gesellschaftlicher Ort für ein kommendes Theater sein. Es hat zweieinhalb Jahrtausende Expertise für versammelte Körper. Publikum und Vortragende kehren der realen Gesellschaft gemeinsam den Rücken, um im Durchspielen von Handlungsmodellen etwas über diese zu erfahren. Es tut gut daran, darüber nachzudenken, in welchen Konfigurationen sich Körper weiterhin versammeln können.

Aktiv Mitdenkende

In seiner Geschichte wie in seiner Gegenwart ist Theater reich an ästhetischen Verfahren jenseits der Illusion. Es ist in der Lage, die komplexen Beobachtungsverhältnisse zwischen Spielenden und Zuschauenden, wie Zuschauenden untereinander selbst zum Gegenstand der Aufführung zu machen. Statt schöne Bilder und Geschichten zum passiven Genuss zu liefern, kann es seine Zuschauer einladen aktiv Mitdenkende an einem kollektiven Bewusstseinsprozess zu werden.

Das Theater kann zur Debatte um den öffentlichen Raum Entscheidendes beitragen, sofern es den öffentlichen Raum für sich beansprucht, nicht nur dann, wenn der Zugang zu seinen Denkmälern aus dem 19. Jahrhundert versperrt bleibt. Und es kann seine heiligen Hallen, wenn sie wieder betreten werden dürfen, für Prozesse jenseits der gepflegten Abendunterhaltung öffnen. Überhaupt stellt sich die Frage, warum sich das Theater weitgehend widerspruchslos mit den baulichen Hüllen zufriedengibt, die als architektonisches Manifest einer überwundenen Gesellschaft in die Gegenwart ragen. Warum gibt es anders als bei Bibliotheken oder Museen kaum wegweisende Theaterneubauten?

Ein Jahrhundert zuvor war es anders. Theater war ein Prüfstein des Nachdenkens darüber, wie Menschen in einer zukünftigen Gesellschaft miteinander zusammenleben. Die visionäre Architektur Friedrich Kieslers oder die Raumentwürfe für das Theater von Erwin Piscator waren nur die kühnsten Spitzen einer vielfältigen Bewegung. Zumindest was die baulichen Aspekte betrifft, sind die Versprechen seiner Avantgarde weitgehend uneingelöst. Die Zukunft des Theaters liegt möglicherweise verborgen in seiner Vergangenheit. (Uwe Mattheiß, 4.12.2020)