"Alles, was es möglich macht, vor allem kleineren Kindern ihren üblichen sozialen Verband zu erhalten, ist gut. Wenn man das leichtfertig aufs Spiel setzt, ist das schlecht", sagt der Kinderpsychiater Paulus Hochgatterer.

Foto: Heribert Corn www.corn.at

Eigentlich hätte es ein frühabendlicher Spaziergang mit Abstand im Wiener Augarten werden sollen, aber dann haben das kalte Wetter und die schlechte Verfassung des Handy-Akkus diese Idee verworfen, und dieses Interview ist doch in den digitalen Welten von Zoom gelandet. Hochgatterer sitzt in seinem Wohnraum in der Wiener Leopoldstadt, manchmal ruckelt sein Konterfei, der Ton ist zum Glück tadellos.

STANDARD: Herr Hochgatterer, wie geht es den Kindern? Sie als Kinderpsychiater wissen das vielleicht: in Zeiten von Corona noch schlechter?

Hochgatterer: Auf der einen Seite haben wir alle das Gefühl, wir befinden uns im großen Ausnahmezustand, und es ist nichts mehr so, wie es einmal war. Wir müssen alles neu denken und neu beginnen, wenn Corona irgendwann einmal vorbei ist. Das mag alles stimmen. Das Andere, das sich mir zunehmend zeigt, ist, dass wir uns mitnichten in einem großen Ausnahmezustand, sondern nur dort, wo wir in Wirklichkeit immer waren. Die Frage, ob Kinder psychisch krank werden oder nicht, hängt von Dingen ab, die gar nichts mit Corona zu tun haben oder höchstens mittelbar: Haben die Eltern finanzielle Sorgen oder nicht? Haben sie chronisch unlösbare Konflikte oder nicht? Mögen sie das Kind oder nicht? Damit hat unser kinderpsychiatrisches Geschäft zu tun. Diese Dinge rücken jetzt in der zweiten Welle wieder in den Vordergrund.

STANDARD: Corona als Brennglas für gesellschaftliche Zustände?

Hochgatterer: Ja, wenn eine Familie sozial benachteiligt ist, dann ist sie es unter Corona-Bedingungen besonders. Wenn ein Kind psychisch vulnerabel ist, dann ist es unter Corona-Bedingungen psychisch besonders vulnerabel.

STANDARD: Wo liegen derzeit die Problemfelder bei kleinen Kindern und wo bei Jugendlichen?

Hochgatterer: Kleine Kinder verstehen Corona so gut wie alle anderen. Einem Kindergartenkind kann man Corona gut erklären, und Kinder verstehen auch die Notwendigkeit, sich anzupassen, Regeln einzuhalten, Masken zu tragen oder Rücksicht zu nehmen. Was ihnen Schwierigkeiten macht, wie uns allen übrigens auch, sind Kontakteinschränkungen. Kleine Kinder in komplizierten Trennungssituationen zum Beispiel kommen unter Corona-Bedingungen sicher rasch an die Grenzen ihrer Adaptionsmöglichkeiten.

STANDARD: Gibt es für Sie politische Maßnahmenpakete, die man für besser oder schlechter hält?

Hochgatterer: Alles, was es möglich macht, vor allem kleineren Kindern ihren üblichen sozialen Verband zu erhalten, ist gut. Wenn man das leichtfertig aufs Spiel setzt, ist das schlecht. Was sich im Frühjahr manchmal noch wie Ferien oder ein neues Experimentierfeld angefühlt hat, ist jetzt nur noch anstrengend und erschöpfend. Wir alle, und besonders die Kinder wollen, dass es endlich vorbei ist. Für Jugendliche hat das Leben insgesamt andere Akzente, von ihnen wird Corona immer wieder benutzt, um pubertäre Konflikte auszutragen und um bockig und widerständig zu sein. Aber das tun sie sonst auch.

STANDARD: Haben Sie Tipps für verzweifelte Eltern oder auch Jugendliche, was zu tun ist, wenn es eskaliert?

Hochgatterer: Kinder- und Jugendpsychiater raten immer das Gleiche: Greifen Sie auf Rituale zurück, pflegen Sie Gewohnheiten, auch und vor allen, wenn Sie Kinder haben. Wir kochen immer gern, aber wir kochen unter Corona besonders gern. Und pflegen Sie, auch wenn es nicht immer möglich und einfach scheint, den Humor. Besonders Jugendliche sollten nicht vergessen, auf den Rest zu schauen, und der Rest ist immerhin noch das Leben, das man vor sich hat und überwiegend ohne Corona verbringen wird. Und ich weiß, dass ich mich jetzt auf sehr dünnes Eis begebe: Bitte nehmen Sie Corona hin und wieder nicht so ernst. Damit plädiere ich nicht dafür, die Vorsicht, die geboten ist, über Bord zu werfen, oder für ein Brechen der Corona-Regeln.

STANDARD: Eine Frage an den Vorstand der Kinderpsychiatrie eines Krankenhauses in Tulln: Gibt es dort jetzt mehr zu tun oder weniger, weil manche, die kommen wollen, vielleicht doch Angst vor Ansteckung haben?

Hochgatterer: Im Frühjahr haben wir erst versucht, gewisse Bettenkontingente freizuhalten, um etwa Corona-positive Jugendliche oder Kinder versorgen zu können. Dann war der Andrang nicht so groß, wie wir erwartet hatten. Das hat sich jetzt im Herbst deutlich verändert. Wir sehen mehr Familien, in denen Eskalationen zu Hause deutlich zunehmen, in denen der emotionale Druck, den es vermutlich schon immer gegeben hat, noch weiter steigt, vor allem durch die Isolation, aber auch durch zusätzliche soziale Belastungen wie Arbeits- oder Einkommensverlust. Diese Dinge wirken sich jetzt ganz deutlich aus. Daher kommen wir momentan platzmäßig zunehmend unter Druck.

STANDARD: Zwänge, Depressionen, Angstzustände. Wie äußern sich die Belastungen im Moment bei betroffenen Kindern und Jugendlichen?

Hochgatterer: Mir fallen dazu zwei Szenarien ein. Erstens: Der Druck in Familien steigt, und durch den Corona-Deckel, der da drauf ist, ist kein Ventil mehr vorhanden. Dadurch kommt es dann zu aggressiven Konflikten zwischen Eltern und Kindern oder Jugendlichen. Im zweiten Fall geht es um die Möglichkeiten der Perspektivenbildung. Für Jugendliche, die Schwierigkeiten haben, in die Zukunft zu schauen, ist Corona die absolute Katastrophe. Vorher war die Zukunft grau, aber jetzt ist da gar nichts mehr. Da geht es zum Beispiel um Probleme bei der Schul- oder Lehrstellenfindung. Diese Jugendlichen werden dann vielfach depressiv oder autoaggressiv. Von ganz bedauerlichen Dingen wie suizidalem Verhalten will ich jetzt gar nicht reden, aber auch das kommt vor.

STANDARD: Für Medien ist es sehr schwierig, über Themen rund um Selbstmordraten zu berichten.

Hochgatterer: Wenn man seriös ist, dann kann man darüber auch noch gar nicht berichten. Wissenschaftliche Empirie kann es da noch nicht geben, das ist viel zu früh. Was Wissenschaft genannt wird, sind vielfach Erlebnisberichte, und die sind unzuverlässig. Ich würde mich nie trauen, derzeit etwas zur Häufigkeit von Suizidalität von Jugendlichen während Corona zu sagen.

STANDARD: Die Netflix-Doku "The Social Dilemma" wurde oft zitiert, wenn vom Anstieg psychischer Erkrankungen bei Jugendlichen die Rede war. Sehen Sie die steigende Nutzung digitaler Medien als etwas Schlechtes für Kinder und Jugendliche?

Hochgatterer: Ich will jetzt nicht ausweichen, aber ich muss zugeben, ich bin jetzt selbst in mehreren Whatsapp-Gruppen gelandet, in denen gibt es regen Austausch, und das macht mir große Freude. Mein Eindruck ist, dass die sozialen Medien gegenwärtig extrem hilfreich sind, um die sozialen Kontakte, die Kindern und Jugendlichen wichtig sind, aufrecht zu halten. Dass sie auch missbraucht werden und dass dort Dinge stattfinden, die wir als Eltern und Kinderpsychiater gar nicht wollen, Mobbing, Ausgrenzung und Übergriffe verschiedener Art, ist die andere Seite.

STANDARD: Haben Sie nie Befürchtungen, dass die Kids durch diese Kontaktlosigkeit einen direkten, natürlichen, nicht zuletzt körperlichen Umgang miteinander verlernen könnten?

Hochgatterer: Ich bin nicht nur kein Kulturpessimist, sondern auch kein Beziehungspessimist. Ich bin überzeugt davon, dass es uns augenblicklich wieder gelingen wird, uns um den Hals zu fallen, sobald es wieder erlaubt ist. Das Gleiche wird ganz sicher auch den Kindern gelingen. Vielleicht werde ich als ewiger Optimist eines Besseren belehrt werden. Was jetzt in Wahrheit am meisten nervt, ist, dass Corona die Zonen der Freude und des Spaßes so limitiert. Andererseits bin ich überzeugt, dass es Familien gibt, in denen ohne Corona nie so viel und so tiefgehend gesprochen worden wäre wie jetzt gerade.

STANDARD: Wir haben keine Spätfolgen von Corona für die Kinder zu befürchten?

Hochgatterer: Ich glaube nicht, dass Corona einen nachhaltig traumatischen Effekt auf die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen haben wird. Es wird eine kleine Gruppe betroffen sein, die ohnehin spezifisch vulnerabel ist. Aber Corona allein macht noch keine Traumafolgestörung. Corona wird insofern Spätfolgen haben, als wir uns alle lebhaft daran erinnern werden. Es wird ein unerschöpfliches Reservoir für Erzählungen bilden. Kannst du dich erinnern, wie furchtbar das alles war! Wir werden einander immer wieder von diesem Jahr mit Corona erzählen.

STANDARD: Frage an den Schriftsteller Paulus Hochgatterer: Werden Sie über Corona in einem Ihrer nächsten Romane schreiben?

Hochgatterer: (lacht) Fällt mir nicht im Traum ein. (Mia Eidlhuber, ALBUM, 5.12.2020)