Kinder kommen nur im Extremfall ins Heim. Besonders schwere Fälle brauchen dort intensive Betreuung und Therapien.

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St. Pölten – Die Klienten der Kinder- und Jugendhilfe haben diese namensgebende Unterstützung dringend nötig, denn der Staat mischt sich erst dann in die Erziehung Minderjähriger ein, wenn es gar nicht anders möglich ist. Nur im Extremfall nimmt das Amt den Eltern die Kinder ab. Es ist also, das ist allen Beteiligten bewusst, ein heikler Bereich, den die niederösterreichische Landesrätin Ulrike Königsberger-Ludwig (SPÖ) seit dem Vorjahr reformiert. DER STANDARD berichtete im Oktober 2019 darüber.

Die Hauptkritik von in dem Bereich tätigen Sozialarbeitern betraf das eingeführte Kostenmodell und den Plan, besonders schwierige Kinder und Jugendliche in großen, "sozialintegrativen" Gruppen zu betreuen: Das gefährde jene intensive Arbeit, die bei Härtefällen notwendig sei. Sind die Befürchtungen eingetreten? Zum Teil.

Probleme bei Härtefällen

Seit 2020 gilt eine Übergangsphase hin zum Normkostenmodell. Für den größten Teil jener Minderjährigen, die von der niederösterreichischen Kinder- und Jugendhilfe betreut werden, hat es sich wohl bewährt. Wie von der Landesrätin gewünscht, herrschen bald Transparenz und Einheitlichkeit bei den Tagsätzen, es gibt keine eigens ausgehandelten Verträge mit jeder privaten Einrichtung, die im Auftrag des Landes Kinder betreut.

Doch problematisch wird es für Kinder und Jugendliche, die eine besonders intensive Betreuung brauchen. Die Rede ist von absoluten Härtefällen.

Kleine Gruppen müssen erst beantragt werden

Eine Sozialarbeiterin schildert dem STANDARD anonym die Arbeit mit einer 14-jährigen Klientin mit Entwicklungsstörungen: Das Mädchen sei viele Jahre hinterher und müsse etwa erst essen lernen. Sie wird in einer Gruppe mit vier Burschen und einem weiteren Mädchen betreut. "Und wir stehen zu zweit im Dienst", sagt die Betreuerin. Eigentlich bräuchten Klientinnen wie sie oft eine Auszeit von der Gruppe, also Einzelbetreuung – das sei aber mit den vorhandenen Ressourcen nicht möglich.

Königsberger-Ludwig erklärte dem STANDARD dazu im Vorjahr: Die "sozialinklusiven" Gruppen würden von allen Experten befürwortet. Die vereinheitlichten Gruppen könnten außerdem um spezialisierte Kleingruppen erweitert werden. Das Problem in der Praxis: Solche "Module" müssen bei der zuständigen Abteilung in St. Pölten erst beantragt und dann bewilligt werden. Eine Hürde.

Novelle sieht Kleingruppen vor

Dass dieses System nicht ideal funktioniert hat, hat man offensichtlich auch in der Landesregierung gesehen: Eine Novelle, die 2021 in Kraft treten soll, sieht neue Wohnformen parallel zu den großen sozialintegrativen Gruppen vor, nämlich therapeutische und intensivpädagogische Kleinwohnformen.

Das betrifft auch Gruppen des SOS-Kinderdorf. Dessen Geschäftsleiter Clemens Klingan sagt zum STANDARD aber, dass genaue Definitionen dieser neu eingeführten Formen fehlen. Und bezüglich des sozialintegrativen Ansatzes – also Kinder aller "Schwierigkeitsstufen" gemeinsam zu betreuen – sagt Klingan: "Da hat die Praxis gezeigt, dass sich das nicht ausgeht." Deshalb begrüßt er, dass in Zukunft wieder mehr kleine Gruppen möglich sein sollen. Insgesamt sei er der Landesrätin für das Normkostenmodell dankbar, weil es Transparenz schaffe.

Neun Kinder pro Gruppe – auch mit Kleinkindern

Bei einem Punkt der Novelle für 2021 handelt es sich aber eindeutig um eine Verschlechterung: Sozialpädagogische Gruppen dürfen derzeit nicht mehr als acht Kinder umfassen, wenn eines davon jünger als drei Jahre ist; diese Grenze wird auf neun erhöht. "Uns widerstreben so große Gruppensettings von unserer Haltung her", sagt Klingan. Aus Sicht der Kinder "ist das immer problematisch", denn große Gruppen bedeuteten eine stärkere Dynamik und damit Stress.

Im Büro der Landesrätin verweist man darauf, dass der Personalschlüssel durch die Reform insgesamt erhöht und das "von allen Partnern der Kinder- und Jugendhilfe begrüßt" worden sei. An der sozialintegrativen Idee hält Königsberger-Ludwig fest: "Dies ist ein Ansatz, der dem letzten Stand der Wissenschaft entspricht." Mit der Novelle schaffe man für die Fälle, wo das noch nicht möglich sei, neue Rahmenbedingungen für kleine Gruppen.

"Überforderung macht krank"

Für einen weiteren Sozialarbeiter aus Niederösterreich, der mit besonders schwierigen Jugendlichen arbeitet, reicht das alles nicht. Seit Jahren sei der Bereich personell unterbesetzt, durch das Normkostenmodell habe sich die Situation nicht verändert. "Ein 40-Stunden-Job bedeutet de facto, 60 Stunden zu arbeiten", sagt er. Die Strukturen seien nicht auf das ausgelegt, was geleistet wird. "Diese vollkommene Überforderung macht krank."

Für die niederösterreichische Landtagsabgeordnete Silvia Moser von den Grünen ist klar, dass einheitlich große, sozialintegrative Gruppen "einfach nicht funktionieren". Dass in der Novelle kleinere Gruppen vorgesehen sind, "ohne dass man beim Land zu Kreuze kriechen muss", sei eine kleine Verbesserung. Aber: "Für Kinder und Jugendliche muss es einfach möglich sein, individuelle Lösungen zu finden. Man kann sie nicht in eine Norm pressen."

Ausstieg aus der Sozialarbeit

Jene Sozialarbeiterin, die sich 2019 an den STANDARD gewandt hatte, konnte und wollte so übrigens nicht mehr weitermachen; sie hat sich beruflich neu orientiert. (Sebastian Fellner, 11.12.2020)