Tankstellen: Inseln des Zusammenseins im Verkehrsfluss.
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Stefan Grob läuft mit einer USA-Kappe und vermummtem Gesicht in die Tankstelle. Früher hätte man das wohl für einen Überfall gehalten, aber die Frau hinter der Kassa bleibt weiterhin ganz ruhig. Wir sind schließlich mitten im harten Lockdown, und maskierte Besucher wundern ohnehin niemanden mehr. Auch nicht hier, an der urigen Landtankstelle MTHL in Schleinbach im Weinviertel.

Herr Grob geht hier oft tanken und einkaufen, er ist der Briefträger im Ort. "Ich bin ein richtiger Landpostler, immer draußen", sagt er. Die Tankstelle sei in Schleinbach ein beliebter Treffpunkt, gebe es doch im Ort sonst nur noch einen Bäcker. "Am Samstag und Sonntag stehen die Leute hier Schlange, wenn sie ihr Frühstück kaufen", sagt Grob.

Mit einer Tankstelle in der Stadt hat die MTHL-Station wenig gemein, im Shop erlebt man eine spezielle Mischung aus üblichen Tankstellenprodukten und regionalen Schmankerln, von Motoröl bis Krustenbrot und Speckstangerl. "Am meisten verkaufen wir Gebäck", sagt die Frau hinter der Kassa, "und wenn es einen Jackpot gibt, Lottoscheine."

Ein Stammplatz für jeden

In kleinen Gemeinden wie Schleinbach sind Tankstellen oft die letzten sozialen Knotenpunkte. Gerade dort, wo das einzige verbliebene Wirtshaus zugesperrt hat, gelten sie als kleine Inseln des dörflichen Lebens. Denn Tankstellen sind zwanglose Orte, hier können Alte und Junge, Alkoholiker und Asketen zusammenkommen. Die einen jammern über ihre Arbeit, die anderen vielleicht darüber, dass sie keine Arbeit mehr haben. Aber auch dieser Form der Geselligkeit hat die Pandemie vorläufig ein Ende gemacht.

Tankstellenkunde Stefan Grob erzählt, dass er als Postler den Menschen derzeit nicht nur Briefe bringen, sondern auch Trost spenden muss. "Ich werde öfter in Gespräche verwickelt", sagt er, "die Leute sind einsam." In der Tankstelle in Schleinbach sind die drei Cafétische und die Sitzbänke zusammengeschoben und mit Wasser- und Weinflaschen verbarrikadiert worden.

Briefträger Stefan Grob erlebt die Vereinsamung auf dem Land.
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Die Verkäuferin sagt, in ihrem Shop seien die Gespräche "natürlich kürzer geworden", weil man nicht sitzen bleiben kann. Es sei derzeit leider eher eine schnelle "Abfertigung".

Tankstellenshopping aus Einkaufserlebnis

Auch an den OMV-Tankstellen herrscht derzeit wenig Leben in den Viva-Shops. Manche Kunden scheinen ihren Einkauf daher besonders langsam zu erledigen, um an der Kassa zumindest ein bisschen plaudern zu können. Hans Pernfuss, ein grobschlächtiger Mann im Holzfällerhemd, gustiert deshalb lange an der Leberkäsevitrine und lässt sich beraten, bevor er die OMV-Tankstelle in Hagenbrunn im südlichen Weinviertel verlässt.

Vollgepackt mit Cola, Kaffee und Leberkäsesemmeln trottet der 61-Jährige zu seinem Auto. "Ich bin ein Leben lang auf der Straße gewesen", berichtet Pernfuss, "früher als Fernfahrer und Monteur, jetzt als Marinetechniker." Gemeinsam mit seinem Sohn repariert er in Österreich, Slowenien und Kroatien kaputte Schiffsmotoren. Besonders gerne halte er auf seinen Dienstfahrten an OMV-Tankstellen. "Der Kaffee ist von Gerasdorf bis Koper immer der gleiche", erklärt Pernfuss.

Für Marinetechniker Hans Pernfuss und seinen Sohn sind Tankstellen der "gemütliche Teil der Arbeit".
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Tankstellen sind für den Techniker "der gemütliche Teil der Arbeit", weithin leuchtende Herbergen, wo er sich an einem Kaffee und einem netten Gespräch wärmen kann. Im Lockdown müsse man sich seine Jause nun ins Fahrzeug mitnehmen, "das Auto wird dabei ziemlich verbröselt", wie Pernfuss es formuliert.

Während Herr Pernfuss seine Pausen nun ins Auto verlegen muss, lässt sich annehmen, dass viele andere Stammgäste der exakt 2733 Tankstellen, die Österreichs Mineralölindustrie im vorigen Jahr statistisch ermittelt hat, nun einfach zu Hause bleiben – im Lockdown gemeinsam einsam.

Ursprünglich galt die Tankstelle als "Nicht-Ort", wie der französische Anthropologe Marc Augé schrieb, als ein identitätsloser Platz für Durchreisende. Im ländlichen Raum ist das heute anders, hier haben Tankstellen eine Seele. Gerade die Einzelbetriebe, sogenannte weiße Tankstellen, die keinem großen Mineralölkonzern gehören, spiegeln oft das Wesen ihrer Betreiber wider. Manche Tankstellen haben noch eine Werkstatt dabei, andere wirken wie ein Greißler, mit vielen Sorten Käse, Wurst und Gebäck.

In Neufeld an der Leitha im Burgenland führt Roland Winkler so eine kleine Tankstelle, die von der Nähe zum Kunden lebt. Auf dem blauen Overall des 55-Jährigen prangt das Firmenlogo KJL. Das klingt nach Dreibuchstabenfirma à la OMV oder MOL, aber KJL sind die Initialen seiner drei Kinder Katja, Jakob und Lara. "Wir haben 365 Tage im Jahr offen", erzählt Winkler, "ich habe auf der Tankstelle auch schon zweimal Silvester gefeiert."

Roland Winkler: "Wir haben 365 Tage im Jahr offen."
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An seinen Zapfsäulen werden die Autofahrer noch von Tankwarten bedient, die Leute wüssten das zu schätzen, sagt Winkler. Bis zum harten Lockdown am 17. November stand ein Holztisch mit Sitzbank vor der KJL-Tankstelle. Winkler hat alles weggeräumt, er wolle seine Kunden schützen. "Die Leute wären auch im Lockdown gekommen, definitiv", sagt er.

Der Tankstellenbesitzer verkauft im Winter auch Heizöl und im Sommer Gas, für die Campingurlauber, die dann weiterfahren zum Neufelder oder zum Neusiedler See. Der Umsatz mit Benzin und Diesel sei heuer um 40 bis 50 Prozent zurückgegangen, nur der Shop laufe stabil. "Viele sind ja im Homeoffice und fahren viel weniger Auto. Manche kommen jetzt zu Fuß einkaufen", sagt Winkler und lacht, obwohl das Geschäftsjahr nicht lustig war. Die Corona-Flaute nutzt der Unternehmer gerade dafür, eine neue Waschstraße zu bauen, hinter seiner Tankstelle wird schon gebaggert.

Einmal auftanken

Nicht alle, die man in diesen Tagen an Tankstellen trifft, nehmen die Zumutungen des Jahres 2020 so gelassen wie Roland Winkler. An manchen Zapfsäulen hört man auch düstere Verschwörungserzählungen über die Entstehung und die Verbreitung des Coronavirus. Und doch spürt man, wie das Prinzip Hoffnung die Leute weitermachen lässt.

In Schleinbach ist es die Aussicht, dass die großteils betagten Stammgäste der MTHL-Tankstelle ihren Kaffee und ihr Kipferl im nächsten Jahr wieder drinnen konsumieren und dabei Interessantes beobachten können. Roland Winkler hofft, im Sommer vor seiner Tankstelle wieder Tische und Bänke aufstellen zu können. Die Waschstraße wäre dann fertig, es gäbe sicherlich viel zu sehen.

Und der Marinetechniker Hans Pernfuss könnte auf seinen Fahrten zu maroden Schiffsmotoren nicht nur sein Auto, sondern bald wieder auch seine Seele ein bisschen auftanken. (Lukas Kapeller, Rainer Schüller, 9.12.2020)