"Unser Ziel ist es, Menschen für gesellschaftlich wichtige Arbeit zu gewinnen", sagt Initiator Gernot Jochum-Müller. Eine Onlinedatenbank sorgt für ein perfektes Match zwischen Hilfesuchenden und Helfern.

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Coco Kammerer, 55-jährige Unternehmerin aus Altaussee, spart fürs Alter. Auf sehr ungewöhnliche Art, denn sie sammelt Zeit. Wie im Geschäftsleben – sie upcycelt alte Dirndl zu modernen Kleidungsstücken – ist Frau Kammerer auch bei der Altersvorsorge kreativ. Sie spart Betreuungszeiten an, indem sie Betreuungsarbeit leistet.

Wenn Coco Kammerer einer kranken Alleinerziehenden unter die Arme greift oder alten Menschen bei Alltagsbesorgungen hilft, bekommt sie kein Geld dafür, arbeitet aber auch nicht gratis: Ihre Stunden werden als Zeitpolster gutgeschrieben. Sollte Frau Kammerer einmal selbst Hilfe benötigen, wird ihr Guthaben als Betreuungsleistung ausbezahlt. 60 Stunden hat Coco Kammerer seit vergangenem Oktober gesammelt.

Verein bietet Plattform

Organisiert wird die alternative Betreuungsarbeit vom bundesweiten Verein Zeitpolster, der wiederum aus lokalen Zeitpolster-Teams in aktuell fünf Bundesländern besteht. Eines davon ist das Team Ausseerland, das Coco Kammerer initiiert hat. Die Teams suchen, motivieren und managen Helfende in ihrer Region. Das Angebot umfasst Alltagshilfe für alte Menschen, Menschen mit Beeinträchtigungen, pflegende Angehörige, Familien. Eine Onlinedatenbank unterstützt das Matching von Hilfesuchenden und Helfenden, damit Nachfrage und Dienstleistung passen, aber auch die Chemie stimmt.

Die Unterstützung reicht von Garten- über Hausarbeit, Fahrdienste, Hilfe am Computer, Einkäufe und Botengänge bis zur Begleitung zu Ärzten oder kulturellen Veranstaltungen. "Hilfestellungen, die früher Familie oder Nachbarschaft übernommen haben", sagt Zeitpolster-Gründer Gernot Jochum-Müller. Der Vorarlberger Unternehmensberater und Initiator der Tauschorganisation Talente Vorarlberg recherchierte weltweit alternative Betreuungsformen. "Auslöser waren die alternden Mitglieder unserer Tauschorganisation", erzählt Gernot Jochum-Müller. "Sie waren damit konfrontiert, dass sie Hilfe brauchten, aber keine Gegenleistung mehr erbringen konnten."

Wie die Idee entstanden ist

Ein japanisches Modell schien Jochum-Müller nachahmenswert. Er arbeitete für das Schweizer Bundesamt für Sozialversicherung ein ähnliches Projekt aus, das seit sieben Jahren in St. Gallen umgesetzt wird. 2018 war auch die Zeit in Österreich reif. Jochum-Müller startete sein Zeitpolster-Projekt parallel in Wien und Vorarlberg. "Unser Ziel war es, Menschen, die bisher nicht ehrenamtlich tätig waren, für gesellschaftlich wichtige Arbeit zu gewinnen. Was auch gelingt. 60 Prozent unserer Mitglieder waren vorher nicht in der Freiwilligenarbeit."

Angesprochen fühlen sich Menschen, die in der Pension etwas Sinnvolles machen wollen, aber auch Junge, die einige Stunden ihrer Freizeit sinnstiftend verbringen wollen. "Bei der Entscheidung zur Betreuungsarbeit ist die Zeitgutschrift wichtig, im Tun nicht mehr", weiß Jochum-Müller. Was Coco Kammerer bestätigt: "Die Arbeit ist eine Win-win-Situation. Ich helfe Menschen, kann dabei aber mit einem tollen Team daran mitarbeiten, ein neues System aufzubauen."

Was Leute brauchen

Nachgefragt werden die Dienste vor allem von alten Menschen, die keine Familie haben oder deren Familienmitglieder berufstätig sind, weit entfernt wohnen. Der Wunsch nach Kontakt, die Einsamkeit im Alter stünden oft hinter den Unterstützungsanfragen, sagt Gernot Jochum-Müller. "Es geht vordergründig um die Glühbirne, die gewechselt, oder den Rasen, der gemäht werden sollte. Viel wichtiger ist dann aber, miteinander ins Gespräch zu kommen." Selbst in der Corona-Krise blieb man, wenn gewünscht, in Kontakt. "Unsere Helfenden haben gezeigt, dass man auch auf Distanz in Verbindung bleiben kann", sagt Jochum-Müller.

Eine weitere Gruppe, die auf Zeitpolster-Hilfe zählt, sind pflegende Angehörige. Jochum-Müller: "Am Nachmittag kurz auf einen Kaffee gehen, darauf verzichten pflegende Angehörige oft jahrelang. Sie können sich diese Freiheit gar nicht mehr vorstellen. Ihnen ermöglichen unsere Teams einige Stunden die dringend benötigte Auszeit."

Betreute bezahlen nicht mit Zeit, sondern acht Euro pro Stunde. Das Geld geht in die Organisation, finanziert Verwaltung, Versicherungen der Helfenden, Verrechnung.

Hilfe, nicht Pflege

Aber wie unterscheidet sich Zeitpolster in seinem Angebot von anderen Betreuungsdiensten? "In erster Linie, dass wir ausdrücklich keine Pflegedienste anbieten, sondern jeder und jede Helfende die eigenen besonderen Fähigkeiten einbringt und zur Verfügung stellt." Konkurrenzängsten etablierter Einrichtungen begegnet man mit umfassender Information und Kooperation. "Best Case" wäre für Jochum-Müller, "wenn sich überall Zeitpolster-Netzwerke bilden und in bestehende Systeme integriert würden."

Ein Beispiel für gelungene Integration ist der Sozialsprengel der Gemeinde Hard (Bezirk Bregenz). Das Zeitpolster-Team ist dort Teil der kommunalen Dienste geworden. Sozialsprengel-Geschäftsführerin Cornelia Reibnegger sieht in Zeitpolster eine ideale Ergänzung zum Mobilen Hilfsdienst: "Die Anfragen gehen bei uns ein. Wir schauen dann, wer die gewünschte Hilfestellung am besten machen kann."

Fitte Pensionisten

Die Idee, in der Freizeit etwas Sinnvolles zu machen und dabei noch für das eigene Alter vorsorgen, gefalle sogar jungen Menschen, beobachtet Cornelia Reibnegger. Dem Team in Hard habe die Corona-Zeit Zuwachs verschafft. 50 Menschen seien dem Aufruf der Gemeinde, während der Isolationswochen alte Menschen durch Einkaufsdienste zu unterstützen, gefolgt. "Und einige davon wollen nun bei Zeitpolster weitermachen."

Die Entwicklung der Organisation habe der Lockdown aber sehr eingebremst, sagt Gernot Jochum-Müller: "Beim Aufbau neuer Gruppen hat uns Corona ein Jahr zurückgeworfen." Auf die Stundenzahl der Vor-Corona-Zeit kam man erst wieder im Juni.

Dabei hatte das Jahr für Zeitpolster sehr gut begonnen: Ende Februar wurde die erste Finanzierungsrunde erfolgreich abgeschlossen, Jochum-Müller hatte es als Social Entrepreneur geschafft, zu Impact-Investments durch die eigentlich auf die Finanzierung grüner Technologien spezialisierte Plattform Green Rocket zu kommen. "Wir waren das erste Social Business, das aufgenommen wurde."

Abrechnung nach Stunden

Die Zinsen für die Investments (sechs Prozent) werden zur Hälfte mit Zeitguthaben bezahlt. 2020 fehlt dem nicht auf Gewinn ausgerichteten Unternehmen wie den meisten anderen Unternehmen der lebensnotwendige Umsatz. Dazu komme, so Jochum-Müller, dass Corona-Fördertöpfe für Social Entrepreneure nicht zugänglich sind. "Wir sind nicht Business, aber auch nicht Non-Profit, sitzen also zwischen den Stühlen."

Weil der Aufbau neuer Zeitpolster-Teams eingebremst wurde, hat man sich während der Corona-Monate auf die interne Entwicklung konzentriert. Das gesamte Schulungsangebot, das Teams zum Einstieg und begleitend zur Verfügung steht, wurde digitalisiert. E-Learning ist in der Freiwilligenarbeit angekommen.

Im Hinblick darauf, was die nahe Zukunft betrifft, herrscht auch bei Zeitpolster Unsicherheit. In die fernere Zukunft blickt Gernot Jochum-Müller optimistisch: "Mit der Boomer-Generation kommen hochqualifizierte Menschen mit vielen Talenten in Pension. Mit denen rechne ich. Und damit, dass sich unsere Idee, dass Vorsorge heißt, sich um andere zu kümmern, so rasant verbreitet wie ein Virus." (Jutta Berger, 23.1.2020)