Die Ozeanforscherin Emma Camp analysiert Korallenproben in einer Spezialkammer.

Foto: Rolex/Franck Gazzola

Man kann sich das Great Barrier Reef wie ein Land in der Größe Italiens vorstellen, sagt Emma Camp. In dem Land gibt es manche Städte, denen es wirklich gut geht, andere sind dagegen in einem sehr schlechten Zustand. "Wir haben, im Großen betrachtet, seit Mitte der 1990er-Jahre etwa 50 Prozent der Bedeckung des Riffs mit lebendigen Korallen verloren. Das ist ein beträchtlicher Verlust. Als Kollektiv geht es dem Korallenriff also nicht gut", sagt die Meeresbiologin. "Doch es ist auch wichtig zu betonen, dass noch viel da ist, das es wert ist zu erhalten."

Camp, geboren 1987 in Großbritannien, hatte ihren ersten Kontakt mit der "Unterwasserstadt" eines Korallenriffs mit neun Jahren in einem Karibikurlaub. Das Erlebnis sollte die Weichen für ein Leben stellen, das sich zu einem guten Teil unter Wasser abspielt. Heute forscht sie dank eines Stipendiums des australischen Forschungsrats an der technischen Universität Sydney. Neben Projekten am Barrier Reef leitete sie bereits Korallenforschungen in Indonesien und der Karibik.

Mangrovenwälder als natürliches Labor

Ein Erlebnis im Jahr 2014 in Neukaledonien wurde zu einer weiteren Weichenstellung, die die Forschungen der damaligen PhD-Studentin langfristig bestimmen sollte. "Es war ein Moment, den man in einer Karriere nur einmal erlebt", sagt Camp. In einer Mangrovenlagune, einem tropischen Küstenökosystem mit überfluteten, salztoleranten Bäumen, beobachtete sie Korallen, die unter völlig untypischen, harschen Bedingungen gedeihen.

"Diese Spezies haben sich bereits an das angepasst, was durch den Klimawandel mit den Meeren passieren wird", resümiert Camp. "Sie widerstehen Stressfaktoren, die für Ökosysteme wie das Great Barrier Reef erst in den nächsten 150 bis 200 Jahren vorhergesagt werden." Für Camp wurden die Mangrovenwälder zu einem "natürlichen Laboratorium", das einen Blick in die Zukunft zulässt. Nun gilt es, möglichst viel von dieser Neuentdeckung zu lernen und das neue Wissen für den Erhalt der Korallenriffe nutzbar zu machen.

Camp und ihr Team hoffen, dass sie von der Korallenbleiche betroffene Areale mit den resilienten Spezies besiedeln können und sie so wieder aufblühen zu lassen. Bisher konnten 20 dieser Arten, die selbst im trüben, sauren und warmen Mangrovenwasser überleben, identifiziert werden. Mittlerweile fanden sich auch am Great Barrier Reef selbst einige Bereiche mit den besonders robusten Arten.

Wissenschafterinnen der University of Technology Sydney (UTS) sammeln Korallenproben ein.
Foto: Rolex/Franck Gazzola

Gen-Analysen geplant

Noch wissen die Forscher wenig darüber, was die Korallen so anpassungsfähig macht. Obwohl sie kleiner sind, seien Formen und Farbenpracht ähnlich wie bei ihren "Cousins am Riff", sagt Camp. Als "Holobionten" leben viele der Tiere in komplexen Symbiosen mit Mikroalgen, die in ihre Zellen eingelagert sind. Sie versorgen ihre Wirten nicht nur Nährstoffe, sondern verleihen ihnen auch die intensive Farbenpracht. Schlechte Bedingungen lassen die Algen toxisch werden, was zu ihrer Abstoßung und damit zur Korallenbleiche führt. Klar ist, dass die Mikroalgen der resilienten Korallen andere sind als an den Riffen. Klar ist auch, dass das Tier selbst seine Physiognomie an die Bedingungen anpassen kann, um besser zu überleben. Was noch fehlt, ist ein Verständnis der Resilienz auf DNA-Ebene.

Das Einbringen von Fremdlingen in bestehende Ökosysteme kann verheerende Folgen haben. Australiens Geschichte mit ihren Hasen- und Krötenplagen ist voll davon. Das Forscherteam geht bei den Ansiedlungsplänen deshalb sehr behutsam vor. Zuerst wurden Korallen aus den Mangrovenwäldern auf kleinen Plattformen am Riff angesiedelt und andere vom Riff bei den Mangroven, um ihr Verhalten im veränderten Umfeld zu studieren. Auf eigenen Unterwasserkonstruktionen am Barrier Reef wird zudem erprobt, wie man Korallen generell am besten wachsen lässt. Läuft alles gut, sollen die neuen Spezies in eigenen "Kinderstuben" kultiviert werden. Bei den Maßnahmen arbeiten die Forscher auch mit Touristikern und Hobbytauchern zusammen – der Erhalt soll zur kollektiven Anstrengung werden.

Doch auch bei positiven Ergebnissen könnte man auf diese Art nicht dem gesamte Barrier Reef helfen, räumt Camp ein. "Abseits der Bremsung des Klimawandels gibt es nicht die eine große Lösung für die Rettung der Korallen. Die Neuansiedlungen sind nur ein Werkzeug in einer Toolbox, die uns hilft, Zeit zu gewinnen." Die erwarteten Gen-Informationen könnten etwa auch anderen Forschern helfen, die Babykorallen gezielt mit resilienteren Mikroalgen versetzen wollen – ein weiteres Werkzeug in der der Toolbox.

"Es besteht das Risiko, dass sich das Great Barrier Reef noch in unserer Lebenszeit unwiedererkennbar verändert", sagt Emma Camp.
Foto: Rolex/Franck Gazzola

Globale Auswirkungen

Camp ist bemüht, die Warnung vor dem Verlust der Korallen in die Welt zu tragen. Sie wurde etwa zum Young Leader der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung gekürt. Die Uhrenmarke Rolex verlieh ihr einen "Preis für Unternehmergeist". Ihr ist wichtig, die globale Bedeutung der Korallenökosysteme hervorzustreichen. Ihr Sterben ist ein Warnsignal für unumkehrbare Veränderungen des Erdsystems, die auch in Europa spürbar sein werden. Korallenriffe bieten den Inseln, denen sie vorgelagert sind, Schutz. Durch die Fischerei, die sie ermöglichen, sorgen sie für die Deckung des Proteinbedarfs großer Bevölkerungsgruppen und sind ein wichtiger ökonomischer Faktor. Fallen sie weg, könnte das beispielsweise die globalen Flüchtlingsströme verstärken.

Geht die Erderwärmung unvermindert weiter, scheint das Schicksal der Korallenriffe besiegelt. In Worten Camps: "Es besteht das Risiko, dass sich das Great Barrier Reef noch in unserer Lebenszeit unwiedererkennbar verändert. Das große, schöne, ikonische Ökosystem, das wir mit dem Namen verbinden, wird nicht mehr da sein." (Alois Pumhösel, 7.12.2020)