Grazer Volksblatt vom 12. Dezember 1884

Ein Orkan in Wien
Mittwoch, 10. Dezember.

Morgens 6 Uhr begann in Wien ein großartiger Orkan, dessen Stärke an dem angerichteten Unglücke zu ermessen ist. Schornsteine, Ziegel usw. flogen durch die Luft; die Singer- und Augustinerstraße musste gesperrt werden. Menschen wurden bei Seite geschleudert, Möbelwagen, Omnibusse umgeworfen, Hüttenbauten zerstört. — Die Schulen blieben leer; es leuchtete ein, dass man die Kinder nicht in dieselben gehen lassen könne.
— Ein Bürstenbinder wurde in der Kärntnerstraße gegen einen Gas-Kandelaber geschleudert und an Stirne und Unterkiefer schwer beschädiget; einem Steindrucker wurde der Oberschenkel gebrochen; eine Taglöhnerin erhielt eine Verrenkung des Hüftgelenkes. Am Hof richtete der Sturm unter den Buden des Weihnachtsmarktes arge Verwüstung an; zum Glücke waren die Waren noch in Kisten verpackt. Von einer Laterne wurde ein Milchglas vom Sturme herausgebrochen, in horizontaler Richtung 45 Meter fortgetragen und zum alten Stadt-Bauamte hingetrieben; hier schlug es ein Fenster durch und die Trümmer flogen aufs Reißbrett eines Ingenieurs, ohne diesen zu verletzen.

Am Stephansplatze wurden einige Roll-Läden des Thonet'schen Warenhauses aus den Rinnen gerissen und wie Blechtafeln gekrümmt bis aufs Pflaster herabgebogen.
In der Singerstraße wurde das Palais Brenner zum Teile abgedeckt, die Ziegel bedeckten die Straße in der Länge von zehn Klafter. In der Praterstraße wurde ein Kutscher mit seinem Gefährte umgeworfen und schwer verletzt. — Das Dach des Magazines am Staatsbahnhofe wurde abgetragen; hierbei der Schornstein derartig verletzt, dass Feuer ausbrach und den übrigen Teil deS Dachstuhles in Brand steckte, der aber alsbald gelöscht wurde.
Im Prater herrschte ein Gräuel der Verwüstung; Giebel von der Rotunde, Schornsteine der Pavillons und Magazine bedecken mit ihren Trümmern den Boden; Kisten liegen herum. Auf der Kronprinz Rudolf-Brücke wurde ein eiserner Gas-Kandelaber umgebogen. Alle Telegraphen-Leitungen im Prater sind zerstört.
Die Schieferdächer auf dem Central-Friedhofe sind herab gerissen; die Blitzableiter gefallen, einige Monumente beschädiget.

An den neuen Museen sind die Planken weggetragen. In der Babenberger-Gasse wurde ein Fiakerwagen mehrmals herumgedreht, niedergeworfen und der Kutscher leicht verletzt.
Solche Fälle ereigneten sich mehrere. Die Blumen eines umgestürzten Gärtnerwagens wurden weit fortgetragen. Bei der Hof-Oper wurde ein Milchwagen gegen einen in der Nähe befindlichen Heuwagen getrieben; die Deichsel des letzteren drang dem Pferde des Milchwagens in den Leib, si dass das Tier getötet wurde. — Schwere und leichte Verletzungen waren bis Mittwoch Nachmittags circa ein Dutzend bekannt.

Denselben Mittwoch um 8 Uhr Früh wurden auf der Wien-Aspang-Bahn am Laxenburger Bahndamme — wie schon gemeldet — die vier
letzten Wagen des Trains vom Sturme erfasst und hinabgeschleudert. Der Reisende Leopold Böhm aus Himberg und der Conducteur Einzinger wurden schwer verletzt; Letzterer verlor ein Auge. Ein Säugling wurde am Auge verletzt; die Mutter erlitt nur leichte Hautabschürfungen. Die Waggons sind arg beschädiget; drei derselben sind übereinander gekollert; der Bahnkörper selbst erlitt keine Beschädigung. Im Ganzen befanden sich nur sechs Personen in den gestürzten Waggons. — Einzingers „Geliebte" begab sich nach Laxenburg, um sich mit Einziger copuliren zu lassen, damit die Kinder legitimiert werden.
Von einem zweiten Zuge dieser Bahn wurden bei Neufeld zwei Waggons abgekoppelt und stürzten über den Damm; sie überkollerten nicht und es wurde niemand von den Passagieren verletzt.

Neuigkeits Welt Blatt vom 12. Dezember 1884

Merkwürdige Heilmethode

In einem Dorfe des Orenburger Kreises erkrankte kürzlich eine Bäuerin am Fieber, das in Russland ungemein intensiv und anhaltend zu sein pflegt. Die Kranke entschloss sich, ein von "erfahrenen" Leuten angeratenes Mittel in Anwendung zu bringen, sie trank nämlich die von einer ganzen Schachtel Zündhölzchen hergestellte Phosphorlösung aus. Natürlich stellte sich starkes Erbrechen ein und die Patientin kam zu dem erfreulichen Schluss, dass das Fieber abzugehen beginne. Nach dem russischen Volksglauben ist das Fieber die "Lichomanka" oder "Trjassowitza" (Schüttlerin), ein böses Wesen, das in Gestalt von neun leiblichen Schwestern den Menschen befällt. Wird das Fieber schwächer, so bedeutet das so viel, dass eine oder vielleicht auch schon ein paar dieser Schwestern ausgetrieben sind; die übrigen aber stecken noch drin und man muss auf die Vertreibung auch dieser bedacht sein.
Also auch unsere Kranke; erfreut über den ersten Erfolg, nahm sie dann noch den scheußlichen Trank von zwei weiteren Schachteln Phosphorhölzchen zu sich. Die Folge war selbstverständlich eine komplete Vergiftuug. Jetzt gab man der Kranken als Gegengift Milch, leider zu spät; die Unglückliche gab unter fürchterlichen Qualen ihren Geist auf.
Ein ähnlicher Fall trug sich in der Stanitza Burannaja mit einem Kinde im Alter von ein bis zwei Jahren zu. Das Kind erkrankte; die Eltern, Kosaken, schlossen auf Fieber und behandelten das Kind nach demselben Rezept der landesüblichen Volksheilmittellehre. Der Erfolg war derselbe — das Kind starb.

Neues Wiener Tagblatt vom 12. Dezember 1884

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