Wenn vor drei Jahren jemand gesagt hätte, dass wir im Jahr 2020 alle wegen eines Virus mit Masken herumlaufen würden, alle Bürger zu Massentestungen müssten und in der Folge eine Impfung angeboten würde, welche in weniger als einem Jahr entwickelt wurde, dann hätte man die Person wahrscheinlich wohl in die Schublade der Verschwörungstheoretiker oder Querdenker gesteckt. Nun ist ebenjener Sachverhalt unsere neue "Normalität", wobei es sich bei dem Begriff um ein künstliches Konstrukt handelt.

In der Psychologie als Wissenschaft wird oft zwischen verschiedenen Formen der Norm unterschieden. Bei der statistischen Norm gilt als normal, wer sich in einem bestimmten Bereich um den Mittelwert eines Merkmals befindet. Die Idealnorm beschreibt einen Zustand einer vordefinierten qualitativen "Vollkommenheit", die Sozialnorm zieht gesellschaftlich definierte Verhaltensnormen heran und die funktionale Norm sieht als normal an, wer bestimmte Funktionen erfüllt. Am Ende gibt es noch unsere individuelle Definition von Norm, welche als subjektive bezeichnet wird.

Wer definiert was normal ist?

Donald Trump ist im Verständnis einer qualitativ entwickelten Idealnorm außerhalb dieser und in einer statistischen Norm je nach Referenzstichprobe innerhalb, jedenfalls wenn man seine Wählerzielgruppe hernimmt. Wer hat außerdem das Recht jemanden abzuklassifizieren? Dennoch tun wir dies öfter als uns bewusst ist, gerade bei Mensch deren Meinungen nicht in unser Denkmuster passen. Ähnlich wie psychiatrische Diagnoseschemata werden Krankheitsbilder von Menschen und nicht von einer höheren göttlichen Instanz entwickelt und von der Scientific Community übernommen. Diese werden dann auf die Grundgesamtheit der Bevölkerung angewandt. Solche Muster werden leider manchmal auch unreflektiert übernommen und über Menschen, deren Individualität und Persönlichkeit viel vielschichtiger ist, als es jedes Diagnoseinstrument zu erfassen in der Lage ist, gestülpt. Eine Reduktion der Komplexität, um dem Unverständlichen Verständlichkeit zu geben.

Wie viel Selbstreflexion verträgt die Politik?
Foto: Reuters/LEONHARD FOEGER

Der autoritäre Charakter und das Diktat der Normen

Der Psychoanalytiker Erich Fromm fasst unter dem Terminus des autoritären Charakters ein spezielles Muster von Einstellungen und Persönlichkeitsmerkmalen zusammen, die seiner Meinung nach das Sozialverhalten negativ beeinflussen. Zentrale Elemente seiner Theorie sind unter anderem Konformität, Destruktivität, Autoritarismus und extremer Gehorsam gegenüber Autoritäten. Bestimmte Zusammenhänge zwischen dem beschriebenen Konstrukt und der Affinität zu Normen und Regeln sowie dem Handeln mancher Politakteure lassen sich bei etwas Kreativität durchaus erkennen. Derartige Persönlichkeitstypen zeichnen sich oft durch ein geringes Ausmaß an Selbstreflexion aus.

Wie viel Selbstreflexion verträgt die Politik?

Selbstreflexion ist für viele politische Karrieren sogar eher hinderlich. Ein gewisser Pragmatismus sein Ding durchzuziehen, ohne links oder rechts zu schauen, ist in diesem Kontext sicher nicht immer von Nachteil. Bei den TV-Interviews des Kanzlers merkt man, dass Fragen, die Alternativen zu seinen Strategien aufzeigen, am liebsten mit einem dezent abwertend-abwehrenden Lächeln beantwortet oder als gänzlich abstrus abgeschmettert werden. Seine Modelle hingegen werden, analog zum Verhalten der SPÖ Chefin Pamela Rendi-Wagner, in Einserschülermanier als alternativlos dargestellt. Mit dem Unterschied, dass der Kanzler den Primus für die breite Masse annehmbarer und weniger künstlich mimt - Stichwort "Wie Sie wissen bin ich Ärztin".

Willkommen Österreich - Fankanal

Wenn man eine derartige Tatsache extra erwähnen muss, ist es nicht wirklich vorteilhaft. Eindimensionale Bildung ist problematisch, vor allem wenn sie im Sinne von undifferenzierter Reproduktion und nicht von (Selbst-) Reflexion stattfindet. Wäre man ganz böse könnte man neben den Corona-Massentestungen ebenso auf die Idee kommen Massenintelligenztests für politische Verantwortungsträger anzudenken. Aber wie Sie, die geneigten Leser, wissen bin ich Psychologe (was nicht immer positive Assoziationen auslöst, darum vergessen wir das gleich wieder) und daher nehmen Sie meine gedanklichen Ergüsse nicht so ernst ("Er will ja nur spielen"). Ein Plus für die Mitarbeit in Form von schmeichelhaften Kommentaren erwarte ich mir schon oder ein "Setzen! Nicht genügend". Das sei Ihnen überlassen. (Daniel Witzeling, 10.12.2020)

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