Vor drei Wochen haben bekanntlich die polnische und die ungarische Regierung ein Veto gegen das EU-Budget für die Jahre 2021 bis 2027 und das Corona-Hilfspaket eingelegt. Die beiden Staaten wehren sich dagegen, dass die Auszahlung von EU-Mitteln künftig an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien geknüpft wird. Einige Tage vor der entscheidenden Sitzung der Staats- und Regierungschefs der Union über die Reaktion auf diese Blockade endete zufällig am Freitag in Wien nach 168 Verhandlungstagen der bedeutendste Korruptionsprozess der Zweiten Republik mit dem strengsten, nicht rechtskräftigen, Urteil für einen österreichischen Politiker.

Karl-Heinz Grasser mit Anwälten am vergangenen Freitag im Wiener Straflandesgericht.
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Man muss über den Tellerrand der kleinen Welt der österreichischen Innenpolitik schauen, um die internationale Signalwirkung der Verurteilung Karl-Heinz Grassers, des langjährigen Finanzministers (2000–2007) und sogar möglichen Nachfolgers des damaligen ÖVP-Obmannes Wolfgang Schüssel, wegen Untreue zu acht Jahren Haft zu begreifen. Trotz der Druckversuche von außen bewies eine souveräne Richterin, dass der Rechtsstaat in Österreich funktioniert und dass vor dem Gesetz jeder Bürger gleich ist. Die Ermittlungen der Staatsanwälte und die Aussagen von 150 Zeugen lieferten einen Einblick in die von Bestechung und Bestechlichkeit geprägten Netzwerke.

Spielregeln der Demokratie

Dass der Hauptangeklagte und sein zu sieben Jahren verurteilter engster Freund, der ehemalige FPÖ-Spitzenpolitiker Walter Meischberger, ihrem Schock und ihrer Wut gegen das "ideologisch motivierte Fehlurteil einer befangenen Richterin" in einer Serie von TV-Auftritten und Zeitungsinterviews Luft machen können, gehört auch zu den ungeschriebenen Spielregeln einer liberalen Demokratie. Ebenso übrigens wie die mediale Kritik an der jahrzehntelangen Ermittlung und Behandlung des Falles.

All das wäre in den EU-Mitgliedsstaaten Bulgarien, Polen und Ungarn völlig unmöglich. Die Massendemonstrationen in Sofia und anderen Städten gegen die Borissow-Regierung zeigen, dass auch in diesem EU-Staat trotz der unverständlichen Zurückhaltung der Brüsseler Institutionen von einem Rechtsstaat keine Rede sein kann. Mithilfe des mächtigen Generalstaatsanwalts Ivan Geschev und des Medienmoguls Deljan Peewski gelingt es dem Ministerpräsidenten Bulgariens, Bojko Borissow, seit fast zehn Jahren, die Justiz zu instrumentalisieren.

Neuer Antrieb

In Ungarn waren die Besetzung des Verfassungsgerichts mit Fidesz-nahen Juristen und die Pensionierung von 200 Richtern 2011 der Anfang der Aushöhlung des Rechtsstaats. Dass der Oberste Staatsanwalt als ein loyaler Vertrauensmann des Ministerpräsidenten gilt, gewährleistet die Straffreiheit für die in Bestechungsaffären verstrickten regierungsnahen Oligarchen.

Die polnische rechtsnationale Regierung versucht in Rekordtempo, die Justiz willfährig zu machen. Der Scharfmacher ist Justizminister Zbigniew Ziobro, gleichzeitig Oberster Staatsanwalt. Die mit politisch genehmen Richtern besetzten und rechtswidrig geschaffenen Institutionen üben brutalen Druck auf unabhängige Richter und Staatsanwälte aus.

Das Wiener Urteil sollte den Kämpfern für den Rechtsstaat in Osteuropa und auch in Brüssel einen neuen Auftrieb verleihen. (Paul Lendvai, 8.12.2020)